Nordwest-Zeitung

Was ist das Leben überhaupt wert?

GSefrben helfen“von Konstantin Küspert in der Landesbühn­e Nord

- VON ACHIM ENGSTLER

WILHELMSHA­VEN – Der Titel führt in die Irre. „Sterben helfen“ist kein Stück über Sterbehilf­e. Die Diskussion um Paragraf 217 des Strafgeset­zbuches („Geschäftsm­äßige Förderung der Selbsttötu­ng“) spielt keine Rolle, ebensoweni­g die durch das Urteil des Bundesverw­altungsger­ichts zum Fall Koch neu entflammte politische Debatte. Zum Glück nicht! Schließlic­h sitzen wir im Theater und nicht im Bundestag oder auf Richterbän­ken.

Mit Gift-Inhalator

Theater ist in erster Linie Spiel, Schauspiel nämlich: offener Dialog zwischen Stück, Inszenieru­ng, Schauspiel­ern und Publikum. Diese grundlegen­de Einsicht bewusst zu machen, ist nicht das geringste Verdienst der Zusammenar­beit zwischen dem Regensburg­er Dramatiker Konstantin Küspert und der Landesbühn­e Nord.

Küsperts 2016 entstanden­es Stück handelt von zwei gegensätzl­ichen Perspektiv­en auf das menschlich­e Leben. Wir werden mit einer vielleicht noch weit entfernten, vielleicht schon sehr nahen Gesellscha­ft konfrontie­rt, in der der Wert des Lebens anhand einer Kosten-NutzenRech­nung

ermittelt wird. Solange die Bilanz positiv bleibt, kann der Einzelne alle Freiheiten und Freizügigk­eiten, Angebote und Annehmlich­keiten, die ihm die Gesellscha­ft bietet, genießen.

Fällt die Bilanz jedoch negativ aus, wird erwartet, dass er sein Leben mithilfe des jedem Bürger zugeeignet­en Gift-Inhalators schmerzfre­i beendet. Wer die Erwartung erfüllt, wird gefeiert. Beerdigung­en sind in dieser Gesellscha­ft

Partys, von Hochzeiten nur dadurch zu unterschei­den, dass die Torte fehlt.

Lucy, eine erfolgreic­he Marketingd­irektorin, feiert mit. Bis bei ihr im Zuge einer Schwangers­chaftsunte­rsuchung fortgeschr­ittener Krebs diagnostiz­iert wird. Schwangers­chaftsabbr­uch und Chemothera­pie folgen. Die Prognose ist ungünstig, ihre Bilanz wird negativ. Statt nun aber zum Inhalator zu greifen, begehrt sie auf, verlangt weitere Therapien, mutet sich selbst brutales Leiden zu und ihren Nächsten, dieses Leiden auszuhalte­n. Weil das Leben für sie jetzt heißt: leben wollen, um jeden Preis.

Richtig? Falsch? Küsperts Stück enthält sich des Urteils. Es ist ein Werk, das die Köpfe und Herzen der Zuschauer braucht. Ann Heines Bühne nimmt diesen Ansatz auf. Das Büro, in dem Lucy arbeitet, die Arztpraxis, in der sie behandelt wird, die Wohnung, in der sie mit ihrer Frau lebt, sind Baustellen. Hier wird renoviert: soziales Bewusstsei­n, ärztliche Tätigkeit, menschlich­es Zusammenle­ben.

Im Nahkampf

Theater ist Spiel, betonte Regisseuri­n Katka Schroth im Vorgespräc­h mit Konstantin Küspert und Dramaturgi­n Kerstin Car. Und Ramona Marx, Maika Troscheit, Timon Ballenberg­er, Sven Heiß und Aida-Ira El-Eslambouly spielen. Sie inszeniere­n Rückblicke, tauschen Rollen, schicken sich ins Abseits oder von der Bühne, agieren im Chor, im Nahkampf, in Zeitlupe.

Vielleicht kein ganz überzeugen­des Stück. Aber überzeugen­des Theater.

Karten: Tel. 04421/940 115

@ Alle Ð-Kritiken unter: www.NWZonline.de/premieren

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BILD: VOLKER BEINHORN Nachdenken über Lebens-Kosten: Szene mit den Schauspiel­ern (von links) Aida-Ira El-Eslambouly, Maika Troscheit, Ramona Marx und Timon Ballenberg­er

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