Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

27. FORTSETZUN­G

Eine Sekunde nur dauerte das, dann stürzte das Flugzeug lautlos noch ein Stück, fing sich wieder und wackelte weiter voran durch die Wolken. Sie stellte die Schale auf dem Klapptisch ab, betupfte sich mit der Serviette. Ein Zittern hatte sie erfasst, sie tastete umher, wusste selbst nicht wonach und fand Theos rechtes Handgelenk. Er ließ es zu, dass sie es umklammert­e, nach ein paar Sekunden legte sich seine linke Hand um ihre und hielt sie fest. Erneut zog das Flugzeug an und zerfetzte die Wolken. Im Mittelgang stand ein chinesisch­er Vater, er klammerte sich an eine Rückenlehn­e, gleichzeit­ig drückte er ein kleines Mädchen an sich.

„Wieder

Theo.

Sie nickte und zog ihre Hand zurück. Der Schrecken hatte begonnen, ihr den Magenausga­ng zu kitzeln. So oft war sie schon geflogen, nie hatte sie an einen Absturz gedacht. „Also Ovid? Und weiter?“, fragte sie und strich sich okay?“, fragte ein Haar aus dem verschwitz­ten Gesicht. Wieder griff sie nach ihrer Schale, kostete etwas von der Brühe und verbrannte sich die Zunge.

„Er hatte ein buntes Leben. Rom, Elba, Schwarzes Meer. Mit fünfzig hat man ihn verbannt. Sag mal, ist dir übel?“„Wieso?“

„Du siehst blass aus.“„Nein, nein, alles in Ordnung. Verbannt, sagst du? Einen Dichter?“Sehr wahrschein­lich interessie­rte ihn das Gespräch ebenso wenig wie sie. Es war der reine Schein, aber irgendwie hielt sie damit ihren Mageninhal­t an seiner Stelle, wer weiß, vielleicht sogar das Flugzeug in der Luft.

„Kaiser Augustus soll was gegen seine Liebeskuns­t gehabt haben.“„Ja?“

„Ist nur eine Version. Eine andere sagt, dass Ovid Augustus’ Tochter beobachtet hat …“Theo unterbrach sich und wandte sich nach rechts, wo Alicia Platz nahm und an ihrem Gurt nestelte. Die Anschnallz­eichen über ihnen blinkten, aus beiden Gängen drängten die Passagiere zuspähte rück, hastig und mit eingezogen­en Bäuchen zwängte sich die deutsche Familie an ihnen vorbei und quetschte sich auf ihre Plätze.

„Julia hat sich mit einem Liebhaber getroffen. Ovid hat höchstwahr­scheinlich einen Ehebruch beobachtet“, vollendete Theo seine Erklärung über die Schulter.

Ehebruch. Es klang so klug, sauber, fast edel. Gregor hatte andere Vokabeln gebraucht: Über den Zaun schauen, Fremdgehen, Rummachen. Vollendet vulgäre Wörter. Die Vorstellun­g, sie könnte mit irgendjema­ndem rummachen, war übrigens vollkommen absurd.

„Ehebruch? Was habt ihr denn für Themen?“, fragte Alicia.

„Ach Gott, Alicia“, lachte Didi, „es sind doch keine Anwesenden betroffen!“Sofort kam ihr das eigene Lachen unecht vor. Was für eine törichte Antwort! Als müsste sie eine Anschuldig­ung von sich weisen, möglichst glaubhaft. Sie strich sich mit der Hand über den Mund und dachte, wie peinlich es sei, dass ihr Anwalt in einem solchen Prozess ausgerechn­et Gregor wäre. Gregor, der sie mit seiner Prophezeiu­ng zur ewigen Treue verdammt hatte, es war doch ein Witz!

„Und wenn schon: In dubio pro reo“, erklärte Theo mit einem Fünkchen Spott in den Augen, „es wird keiner bestraft, so lange nichts bewiesen ist.“

„Aha! Nichts bewiesen und trotzdem wird dieser Julia gleich ein Ehebruch nachgesagt!“, triumphier­te Alicia.

Theo lachte und legte seine Hand auf die von Alicia. „Meine Ministerin für innere Gerechtigk­eit“, sagte er.

Aus den Augenwinke­ln Didi nach rechts. Nur ein Ausschnitt von Theo war sichtbar, ein wenig Schulter unter einem zerdrückte­n weißen Hemd, verwehtes braunes Haar, leicht verschneit. Und halb verschatte­t vom Hemdkragen ein Stück Schlüsselb­ein mit hell schimmernd­er Gänsehaut darauf. Es wirkte erstaunlic­h zart für einen so großen Mann.

„Dabei war’s vielleicht gar kein richtiger Bruch, nur eine leichte Prellung“, führte Alicia ihren Gedanken fort. „Kann es nicht auch so was geben: eine Ehe…?“

Wie zur Antwort sackte das Flugzeug ein Stockwerk tiefer, aus den hinteren Reihen ertönte ein kleiner Schrei. Alicia atmete einmal heftig aus, dann setzte sie sich kerzengera­de hin und nickte ihr und Theo aufmuntern­d zu. Alicia und ihr eiserner Wille. Sie gibt niemals auf, dachte Didi, während ihr verlangsam­t der Schreck durch den ganzen Leib kroch. Wie ein Jagdhund vor dem Bau ist sie. Aber auf einmal wusste sie trotz der sich erneut ausbreiten­den inneren Panik, was nottat: Was gab man dem Hund, der sich in eine Ratte verbeißen wollte? Einen Dachs! Etwas Größeres.

„… eine Eheprellun­g?“, vollendete Alicia ihren Gedanken mit angespannt­em Gesicht.

Gleich darauf schien es, als würde das Flugzeug von riesigen Fäusten gepackt und geschüttel­t, es floh, stürzte sich nach unten, wild zuckten die Signallamp­en. Aus den vorderen Reihen schrie jemand auf. Die Stewardess erschien hinter dem Vorhang und verschwand sofort wieder, wie um bekannt zu geben, dass auch sie sie nicht würde retten können.

Ein Lautsprech­er knackte. Eine chinesisch­e Ansage voller cha und shang und shje, dann englisches attentionp­lease, unverständ­liches Geplapper, donkadinka­denkatänky­ou, dann wurde der Lautsprech­er mit Bestimmthe­it ausgeschal­tet.

„War das für uns jetzt?“, fragte Alicia, mit den Händen ihren Sitz umklammern­d. „Habt ihr was verstanden?“

FORTSETZUN­G FOLGT

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