Nordwest-Zeitung

Regierung hält türkischen Fußball am Leben

Süper Lig hat Anschluss an Europas Spitze verloren – Clubs offenbar alle hoch verschulde­t

- VON JAN KUHLMANN UND ERGIN HAVA

ISTANBUL – Als wichtigste­n Zugang dieser Saison stellte der türkische Spitzenklu­b Besiktas Istanbul Ende August einen Mann vor, der vor Wochen durch zwei schwere Patzer weltberühm­t geworden war: Loris Karius, beim FC Liverpool nach den Fehlern im Finale der Champions League gegen Real Madrid auf die Bank verbannt. Früher hatte sich Besiktas gerne mit schillernd­en Namen verstärkt.

Der Wechsel steht geradezu exemplaris­ch für die Lage des türkischen Fußballs, symbolisie­rt er doch, mit welchen Problemen die Süper Lig zu kämpfen hat. Einst träumte die höchste Spielklass­e des Landes davon, sich auf Augenhöhe mit den großen Ligen Europas zu messen.

Doch die Realität kurz vor der Entscheidu­ng über die Bewerbunge­n Deutschlan­ds und der Türkei für die EM 2024 an

diesem Donnerstag ist eine andere: Längst haben die türkischen Clubs den Anschluss an Europas Spitze verloren.

Die schwierige Wirtschaft­slage des Landes und die Währungskr­ise haben die ohnehin prekäre Lage verschärft. Rund 40 Prozent ihres Wertes hat die türkische Lira seit Anfang des Jahres zum Euro verloren. Ehemalige Topstars wie Lukas Podolski oder der Holländer Robin van Persie, die sich ihr Engagement in der Türkei einst ordentlich vergüten ließen, sind so für die Clubs am Bosporus praktisch unerschwin­glich

geworden. Den Torhüter Karius hat Besiktas für zwei Jahre ausgeliehe­n.

Emir Güney, Direktor des Zentrums für Sportstudi­en der Kadir-Has-Universitä­t in Istanbul, sagt sogar: „Alle Clubs sind bankrott.“Einem Bericht der regierungs­nahen türkischen Zeitung Sabah zufolge stiegen die Schulden der vier großen Clubs – Besiktas, Galatasara­y, Fenerbahce und Trabzonspo­r – auf fast zehn Milliarden Lira. Also rund 1,4 Milliarden Euro.

„Es ist die einzige Liga Europas, in der das Vermögen

der Clubs kleiner ist als ihre Schulden und Verpflicht­ungen“, sagt der britische Journalist Patrick Keddie, der über den türkischen Fußball das Buch „The Passion“geschriebe­n hat. Wie Güney ist der Autor davon überzeugt, dass das ganze System nur durch das Wohlwollen der türkischen Regierung am Leben gehalten wird. Etwa durch Steuerschu­lden, die gestundet werden. Was im Umkehrschl­uss bedeutet: Sollte die Regierung der Liga ihre Unterstütz­ung entziehen, bräche der türkische Fußball zusammen.

Mit einem Liebesentz­ug der türkischen Führung ist jedoch nicht zu rechnen, nicht nur weil Präsident Recep Tayyip Erdogan – der als junger Kicker den Spitznamen „Imam Beckenbaue­r“trug – wie so viele Türken ein leidenscha­ftlicher Fan ist. Politik und Volkssport Fußball sind in der Türkei aufs Engste miteinande­r verwoben.

Die Regierung war es auch, die überall im Land Stadien bauen ließ und lässt, mehr als 30. So spielt etwa Besiktas in einer brandneuen Arena für rund 42 000 Zuschauer. Drei weitere Stadien will der Verband für die EM neu oder umbauen lassen, darunter das Istanbuler Olympiasta­dion für 85 000 Zuschauer.

Die Liga selbst hat in den vergangene­n Jahren einen Zuschauers­chwund erlebt. Dabei sind es nicht zuletzt die Fans, die den türkischen Fußball ausmachen und jedes Stadion in einen Hexenkesse­l verwandeln.

Newspapers in German

Newspapers from Germany