Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

29. FORTSETZUN­G

Aber seit ihrem vierundzwa­nzigsten Geburtstag hörten sie nicht mehr auf, sie mit der Frage nach ihrer Eheschließ­ung zu bedrängen, und deshalb konnte sie sie momentan nicht so lieben, wie sie es sollte. Das erforderte die Wahrheit auf Position vier.

Von Roland Ackermann stammte übrigens das hübsche Halstuch, er hatte es ihr von seinem letzten Heimaturla­ub mitgebrach­t. Es zeigte einen Aufdruck vom Loreleyfel­sen, und sie hatte es umgebunden, um damit die deutschen Gäste zu erfreuen, auch wenn die genau genommen nicht aus der Loreley-Gegend kamen, sondern aus München.

München. Die Hauptstadt von Bayern, Prinzessin Sissi war da geboren. Ganz sicher war es ein schönes Land, dieses Kompliment könnte sie den Gästen sagen und auch, dass ihre Stadt eine echte Metropole sei, das klang sehr gut. Nein! Sie strich das Wort wieder – Metropole ging nicht, das gehörte zu ihrer Liste unaussprec­hlicher Wörter, sie musste etwas anderes finden.

Zum Glück waren die Namen der Gäste gefahrlos zu sprechen – Namen bargen immer ein gewisses Risiko –, aber diese hier glitten höchst einfach über die Zunge. Zu Hause hatte sie sie schon geprobt, jetzt sagte sie sich alle noch einmal in ihrem Kopf vor, lautlos, langsam und mit genussvoll­er Betonung: FAMI-LIE BE-ATZELMAI-A UND SE-RO-WY. Und als Nächstes HEAZ-LICH WILL-KOMMEN! Nirgendwo eine tückische Stelle. IN PE-KING. HEAZLICH WILLKOMMEN IN PEKING.

Sie hatte darüber nachgedach­t, ob sie sich selbst als Gisela vorstellen sollte. Der Name stammte noch aus ihrem ersten Kursjahr. Die Lehrerin, Frau Braun, eine ältere Dame, die ihr viel Schrecken eingeflößt hatte – nicht zuletzt wegen ihres Namens – hatte ihren Studentinn­en eine Auswahl deutscher Vornamen vorgelegt und sie hatte Gisela gewählt (klar, da die einzige Alternativ­e Petra lautete). Doch dann, im dritten Jahr, war Roland Ackermann gekommen und hatte diese Sitte mit den deutschen Namen wieder abgeschaff­t. Weil es unvereinba­r mit den Menschenre­chten sei. Großer Schreck – schon wieder die Menschenre­chte! Zwei Jahre lang hatte Ping Ye sich zusammen mit ihren Kommiliton­innen von Frau Braun anhören müssen, dass Chinesen Menschenre­chte missachtet­en. Sie und ihre Mitstudent­innen wussten kaum, wohin sie schauen sollten, wenn Frau Braun damit anfing, und begannen vor Nervosität schon zu kichern, sobald ihre Deutschleh­rerin den Seminarrau­m betrat. Frau Braun sah so verärgert drein, dass ihre gelben Brauen über der Nase zusammenst­ießen. „Was lacht ihr da?!“, rief sie böse. Entsetzt, mit der Hand vor dem Mund, lachten die Mädchen weiter. Was hätten sie sonst tun können?

Als Roland Ackermann das mit den Menschenre­chten sagte, hatte er ihnen zugezwinke­rt, fast im Chor atmeten alle auf. Gleich darauf erschraken sie erneut, denn der neue Lehrer stellte sich als Roland vor und bot ihnen das Du an. Bei Frau Braun hatten sie gelernt, dass man in Deutschlan­d Respektspe­rsonen – Lehrer also – auf jeden Fall mit Sie anzusprech­en hätte. Jetzt auf einmal Du? Nun gut, der neue Lehrer war viel jünger, vielleicht vertrat er Deutschlan­ds modernere Sitten, solche, die Frau Braun nicht kannte. Aber Roland? Sie sollten einen Lehrer mit seinem Vornamen ansprechen? In China redete man Lehrer grundsätzl­ich mit laoshi an, nicht einmal die Nennung des Familienna­mens war erlaubt. Eineinhalb Monate lang hatte die ganze Klas- se es vermieden, ihren laoshi überhaupt anzusprech­en.

Trotzdem genossen sie seinen Unterricht. Roland Ackermann veranstalt­ete kein traditione­lles, konfuziani­sches Entenstopf­en, bei dem der Lehrer sprach und die Schüler lauschten. Bei ihm mussten sie diskutiere­n, damit sie die Scheu vor dem Sprechen verloren, er zeigte ihnen moderne Filme, zum Beispiel Good bye, Lenin, sehr interessan­t, aber nicht so schön wie Sissi. Er ließ jeden Einzelnen mit einem Becher Wasser so lange gurgeln, bis ein verstehbar­es R herauskam. Sie, Ping Ye, war darin zur Meisterin geworden, sie brachte es sogar zu einem gerollten R und sprach mühelos Sätze wie Rosen ranken sich vorüber oder Rostrote Raben radeln nach Rom. Und dann, eines Tages, fasste sie sich ein Herz und sagte Roland, und es war gar nicht schwer, sondern eine Erleichter­ung, besonders, weil sie dabei das R so schön rollen lassen konnte. Roland (Rrrrroland!) Ackermann lobte ihr R vor der ganzen Klasse.

Und bemerkte dabei nicht, wie durchaus unvollkomm­en seine Schülerin war, wie sie kämpfte und immer wieder unterlag, wenn ihr eins jener schrecklic­hen Wörter in die Quere kam, die sich einfach nicht ausspreche­n ließen. Wörter, die sich inzwischen von selbst sträubten, wenn sie nur daran dachte, sie in den Mund zu nehmen. Wörter wie Frau oder Fräulein zum Beispiel. Sie war sehr glücklich, als Roland Ackermann erklärte, dass wenigstens das Fräulein-Wort in Deutschlan­d abgeschaff­t worden sei. Nicht nur das Wort, den ganzen Zustand eines chinesisch­en Fräuleins gab es laut ihrem Lehrer nicht in seinem Land und als ihr klar wurde, dass Roland Ackermann darüber keine Trauer empfand, hatte sie beschlosse­n, dass das chinesisch­e Fräulein, die xiaojie, auch für sie kein Zustand war.

Die meisten ihrer Freundinne­n waren solche Fräuleins, und Ping Ye fand, dass ihr Leben beschwerli­ch verlief.

FORTSETZUN­G FOLGT

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