„Wie kann man die eigene Kanzlerin so schwächen?“
Deutschlands /achbarn fürchten längst eine handfeste Regierungskrise in Berlin
BRÜSSEL – Erstaunt reiben sich unsere europäischen Nachbarn die Augen: Deutschland, bisher stets ein Hort der Stabilität, taumelt von einer Regierungskrise in die nächste. Und die wichtigste Koalitionspartei zerlegt auch noch die eigene Kanzlerin – auch wenn Angela Merkel am Mittwoch hat klarstellen lassen, dass sie keine Notwendigkeit sieht, die Vertrauensfrage im Bundestag zu stellen. In Europa befürchtet man, dass eine geschwächte Kanzlerin zu einem Problem für die Gemeinschaft werden könnte.
„Das Ende der Ära Merkel ist in Sicht.“Was der Kommentator der „Neuen Zürcher Zeitung“am Tag nach dem Sturz des Merkel-Vertrauten Volker Kauder analysierte, findet sich gleichlautend in allen großen europäischen Medien wieder. „Autoritätsverlust“, „Überfall aus den eigenen Reihen“– fast scheint es, als ob die europäischen Nachbarn nun aussprechen könnten, was sie schon länger beobachten: Merkel ist nicht mehr unantastbar.
Tatsächlich war schon beim EU-Gipfeltreffen in Salzburg in der Vorwoche zu beobachten, dass Merkel in den Reihen der EU-Partner an politischem Gewicht verloren hatte. Mehr noch: Die sonst so enge deutsch-französische Achse schien angeknackst. Knapp ein Jahr nach der berühmten Europa-Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron fühle sich dieser „enttäuscht und brüskiert“von der Bundeskanzlerin. „Die ausgestreckte Hand ist von Berlin nicht ergriffen worden“, ergänzte die PolitikExpertin Judith Dempsey vom Brüsseler Think Tank Carnegie Europe am Mittwoch.
Merkel, die die EU so oft regelrecht angeführt und mitgerissen hatte, wirkte kraftlos, weil sie in den Problemen zu Hause gefangen war – und bleibt. Dabei versteht man in den meisten Hauptstädten ohnehin nicht, warum die deutsche Führungsspitze dermaßen ins Schlingern geraten konnte: Der Export boomt und erreicht – zum Ärger vieler Partner – immer neue Rekorde. Dass der Staat, wie am Mittwoch bekannt wurde, im ersten Halbjahr 2018 seinen Schuldenberg um satte 46,5 Milliarden Euro abbauen konnte, gilt anderen als un- erreichbar. Kein EU-Mitglied hat bessere Zahlen vorzuweisen. „Wie kann es einem Land so gut gehen und gleichzeitig eine starke Regierungschefin so geschwächt werden?“, verlautete etwa aus österreichischen Regierungskreisen.
Die EU-Kommission schwieg wie üblich. Nur inoffiziell ließ sich ein EU-Diplomat zitieren: „Merkel darf nicht schwächeln. Wir brauchen eine starke deutsche Kanzlerin, um in den nächsten Monaten weiter zu kommen.“Die Folgen des unter Umständen ungeordneten Brexits bereiten Brüssel zunehmend Sorgen. Außerdem steht die Europawahl 2019 vor der Tür. Ein Handelskrieg mit den USA ist noch nicht abgewendet, die Beziehungen zu Russland und der Türkei müssen geordnet werden. Schon in wenigen Wochen beim EUGipfeltreffen brauche man eine „Angela Merkel in Bestform“, sagte ein ranghoher Mitarbeiter von EU-Ratspräsident Donald Tusk. Kauder ist nicht das eigentliche Ziel dieser Protestwahl. Die Bundeskanzlerin und der CSU-Chef hatten in der Sitzung vehement für die Wiederwahl Kauders plädiert. Dass die Mehrheit eine andere Entscheidung traf, macht deutlich: Abgestraft wurde Kauder, gemeint sind Merkel und Seehofer. Die Fraktion hat ihren Spitzen in der Regierung offen das Misstrauen ausgesprochen. Die Kanzlerschaft hat kein Fundament mehr. Die Wahl von Brinkhaus ist ein Misstrauensvotum gegen die Kanzlerin, von dem sie sich nicht mehr erholen dürfte. Die Debatten um einen Wechsel an Partei- und Regierungsspitze werden an Intensität gewinnen. Sollte Merkel auf den Moment eines selbstbestimmten Endes ihrer Kanzlerschaft gewartet haben, dann dürfte sich nun eine Erkenntnis breitmachen: Dieser Moment kommt wohl nicht mehr.