ALICIA JAGT EINE MANDARINENTE
30. FORTSETZUNG
Als chinesisches Fräulein durfte man im Lokal nur winzige Häppchen zu sich nehmen, von den Getränken nur nippen wie ein Vögelein und auch das weitere Gebaren entsprach eher dem eines kleinen Federviehs als eines erwachsenen Menschen. Man sprach mit einer piepsigen, hohen Stimme, man nannte sich selbst ein dummes, kleines Ding und sah an den Männern voll Bewunderung von unten nach oben hinauf.
Das alles wollte Ping Ye nicht. Sondern nach Deutschland gehen und dort ihr Sprachstudium fortsetzen. Sie wusste, sie konnte das. Mit ihren Zeugnissen musste sie sich nur bei der deutschen Botschaft melden, ihre Papiere hatte sie beisammen, die Sprachprüfung bestanden. Doch als sie ihren Eltern von diesem Plan berichtete, kam sofort deren Einspruch. „Was wirst du dort machen?“, jammerten sie. „Allein, im Ausland. Ohne Verwandte, ohne Freunde, Europa ist weit weg, du bist alleine da.“Aber wenn sie nicht nach Deutschland ginge, was geschähe dann? Unverzüglich würden ihre Tanten den nächsten Heiratsbewerber ins Haus schleppen, es folgten Verlobung, Hochzeit, das Baby und ein Leben unter der Fuchtel und im Hause ihrer Schwiegermutter. Ping dachte an Sissi und deren Leben unter Kaisermutter Sophie und sagte sich, dass diese Leiden genügten. Sie würde sie nicht auch noch durchmachen müssen.
Am Sanyuanqiao verließ sie die U-Bahn, um nach endlosen Rolltreppen und gefliesten Gängen in den AirportZug zu steigen. Bis zur Landung blieb noch genügend Zeit, aber sie hatte sich vorgenommen vor dem vereinbarten Zeitpunkt da zu sein, um einen guten Eindruck auf Manager Wu, ihren neuen Chef, zu machen. Vielleicht vertraute man ihr bei Facing China später ja noch mehr Gäste an, wenn sie sich bewährte. Mit dem Geld, das sie dabei verdiente, würde sie Geschenke für ihre Eltern kaufen und weiter sparen, um sich ihren Herzenswunsch zu erfüllen.
Es war ein unglaubliches Glück, wie schnell sie diesen Job gefunden hatte. Viele ihrer Bekannten hatten wie sie nach dem Studium eine Ausbildung als Reiseleiter gemacht, um sich dann überall in der Stadt erfolglos zu bewerben. Sie dagegen hatte keine drei Wochen nach ihrem Examen einfach so einen Anruf bekommen, sich vorgestellt und wenige Minuten später ihren ersten Arbeitsvertrag (auf Probe natürlich) unterzeichnet. Die Minuten dazwischen hatte Manager Wu gebraucht, um eine kleine Predigt auf sie niederregnen zu lassen, in der von Verantwortung für die Gesundheit der Gäste die Rede war, ihrem Wohlbefinden beim Essen und dass sie stets das Gefühl haben sollten, in China willkommen zu sein. Sie hatte bei jedem Punkt bescheiden genickt und am Schluss geantwortet, dass sie Sorge habe, auf einige Fragen vielleicht keine Antwort zu wissen. Sehr groß war diese Sorge in Wahrheit nicht. Sie hatte sämtliche für die Prüfung vorgeschriebene Bücher auswendig gelernt. Sie wusste alles über die Abfolge der Herrscherhäuser: die Zeit der Drei Reiche, die der Nördlichen und Südlichen Dynastien, die Sui, Tang, Song, Yuan, Ming und Qing. Sie wusste, welche Blumen Beijing symbolisierten, wie viele Schnellstraßenringe um Beijing lagen und wie das U-Bahn-Netz funktionierte; sie kannte alle Bauwerke und ihre geomantische Lage sowie die berühmtesten Gedichte von Li Bai und Wang Xi Zhi. Außerdem hatte sie vier Jahre lang an der Universität Deutsch gelernt.
In der Ankunftshalle des Beijing Capital International Airport ließ Ping Ye ihren Blick schweifen – nein, Mana- ger Wu war noch nicht da.
Sie zog ihren Taschenspiegel heraus und überprüfte, ob Zopf und Halstüchlein noch ordentlich genug aussahen. Der junge Mann fiel ihr ein, dessen Foto ihre Tante letzte Woche herumgezeigt hatte. Der hatte sie dem Wunsch ihrer Eltern noch mehr entrückt. So klein und dünn und gelb mit Schneidezähnen wie ein Hase, er sah aus wie die Karikatur eines Japaners aus der Zeit der Besatzung. Aber auch wenn der nächste Bewerber groß und weiß mit roten Backen und einer hohen Nase wäre (ein Ideal, dem sie selbst leider auch nicht zu hundert Prozent entsprach, wie ihr der Spiegel gerade bestätigte), würde sie ihn verschmähen. Vor einem halben Jahr hatte Ping Ye beschlossen, überhaupt nicht zu heiraten. Roland Ackermann sagte, in Deutschland wäre so etwas ganz normal, und wie zum Beweis war er selbst auch unverheiratet.
Als sie sich wieder umdrehte, schritt Manager Wu auf sie zu. Er warf einen Blick auf seine Rolex und hielt ihr ein weißes Schild mit aufgedruckten Namen entgegen. „Da!“Mit dem Kinn wies er zu der Absperrung, wo schon Scharen von Abholern warteten. Dann zog er sein Handy hervor, tippte eine Nummer ein und wandte sich ab.
„Jawohl, Herr Manager“, sagte Ping Ye, griff sich das Schild und steuerte auf die Absperrung zu. Jetzt klopfte ihr doch ein wenig das Herz. Abwechselnd sah sie von ihrer Armbanduhr auf die blinkende Anzeigentafel. Das Flugzeug aus München war gelandet, die Gäste stünden bei der Gepäckausgabe. Hielt sie ihr Schild richtig? Die Namen nach vorne?
Immer neue Menschenscharen sammelten sich um sie, im Takt von Sekunden öffneten sich die automatischen Türen hinter der Absperrung, unaufhörlich traten Reisende mit ihren Koffern aus dem Rondell, ganze Trauben von Menschen, die gleichmütig an ihr und den vielen anderen Reiseleitern mit Namensschildern vorbeitrabten.
FORTSETZUNG FOLGT