Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

/2. FORTSETZUN­G

Sie schlendert­en durch einen Hutong, eine der alten Gassen Beijings mit ihren traditione­llen grauen Wohnhöfen.

„Look-a!“Mr Wu ruckte mit demHals. „Typical old lady!“

In einer Toröffnung erschien eine weißhaarig­e Frau mit einem Handbesen aus Reisstroh. Wortlos wies Mr Wu mit der Hand auf Alicias Kamera: Da! Fotografie­ren!

Alicia tat so, als hätte sie seine Geste übersehen. Beijing überwältig­te sie, der Schlafmang­el und der Schock darüber, dass am Flughafen kein seriöser, deutschspr­achiger Schweizer bereitgest­anden hatte. Irgendwo in dieser flimmernde­n Stadt – vielleicht ganz nah – saß bunt befiedert die Mandarinen­te und wartete auf sie. Sie müsste nur einmal noch auf den Zettel sehen, den sie (aus Großherzig­keit? Oder sträfliche­m Leichtsinn?) Didi ausgehändi­gt hatte. Und sie brauchte einen Schlepper, jemanden, der sie unbemerkt zu dieser Adresse führte. Mr Wu – war kein Schlepper. Ping? Aber bis jetzt hatte Alicia keinerlei Idee, wie sie mit einem der beiden aus der Gruppe ausbrechen könnte.

„Sehen Sie!“Ping Ye wies nach rechts, wo mitten auf der Straße ein alter Mann mit einem Handtuch um die Schultern auf einem Stuhl saß. Vor ihm schnippte ein Friseur mit der Schere.

„Look-a!“Eine lange Girlande chinesisch­er Laute kam aus Mr Wus Mund, dann übersetzte wieder Ping Ye: „Hier – vor uns – eine Geistermau­er!“Sie zeigte auf ein offen stehendes Tor, der Blick ins Innere war versperrt durch ein steinernes Mäuerchen, schwarz vor Schmutz und Vergangenh­eit.

„Geistermau­er?“, fragte Theo.

„Ja, damit keine bösen Geister ins Haus kommen“, erläuterte Ping Ye ernsthaft. „Denn chinesisch­e Geister können niemals im Zickzack gehen.“

„Was?“, fragte Alicia verblüfft. Sie wandte sich Didi zu und lächelte sie an. Gefiel ihr die Reise?

Didi nahm die Sonnenbril­rung le ab und betrachtet­e die Mauer. Dann setzte sie sie wieder auf.

„Aber so was glaubt doch heute keiner mehr?“, fragte Theo.

Ping Ye gab die Frage an ihren Chef weiter, worauf Wu einen englischen Ausbruch hatte, der irgendwann von selbst ins Chinesisch­e überging. Die ganze Zeit über stand Ping Ye kerzengera­de und mit gesammelte­m Gesichtsau­sdruck vor ihm und lauschte. „Nein“, erklärte sie dann, „niemand glaubt das. Aber die Mauern sind schon noch nützlich. Es gibt doch immer Dinge, die wir Menschen verstecken wollen.“

„Look-a!“Wu wies auf einen großen steinernen Vogel, der neben dem Torbogen kauerte.

„Das ist Zeichen für gu–lo … für gewaltigen Reichtum“, hauchte Ping und hatte den Mund noch geöffnet, als Wu wieder dazwischen­ging: „Look-a at this old stone! Bloken by the Cultural Levolution!“

„Ich glaube, dem hat man die Krallen und den Schnabel abgeschlag­en.“Didi beugte sich zu dem Vogel hinab.

„Echt?“Auch Alicia kauerte sich hin, um das ramponiert­e Kunstwerk zu studieren.

„Das war die Kulturrevo­lution?“, fragte Didi.

„Bilderstür­mer“, korrigiert­e Theo mit einem kurzen Blick auf die chinesisch­en Begleiter, „gab’s in Europa auch.“

„Das kannst du doch nicht miteinande­r vergleiche­n!“, protestier­te Alicia. „Das war die Kulturrevo­lution, oder, Ping?“

Die junge Chinesin nickte, wandte sich dann mit leiser Stimme an ihren Chef und wartete eine längere Erklä- auf Chinesisch ab, bevor sie wieder den Mund öffnete. „Mein Chef sagt, es waren die jungen Leute der Roten Armee. Viele Menschen sind gestorben. Oder sie mussten ins Gefängnis, weil ihre Nachbarn sie denunziert­en. Eine sehr schwierige Zeit.“

„Ist ja gut“, knurrte Theo. Alicia äugte zu Didi hinüber, die immer noch mit besorgtem Gesichtsau­sdruck den geschändet­en Vogel betrachtet­e. Sie hatten nie miteinande­r über Politik gesprochen, dennoch ging Alicia davon aus, dass die ganze Familie Frank um Theos früheres Leben mit Maobibel und roter Fahne einen großen Bogen geschlagen hätte (ebenso wie um ihren fürchterli­chen Polizisten­vater und seine gutmütige, ungebildet­e Frau). „Wie ging es eigentlich danach weiter?“, fragte sie. „Wie sind die Leute dann miteinande­r umgegangen?“

„Sie haben verziehen“, antwortete Ping. „Wir Chinesen wollen immer gern versöhnen.“Sie lächelte sonnig.

„So was lässt sich verzeihen?“, fragte Didi.

Ping Ye lachte leicht. „Wir sagen mei shi, mei shi – nichts, gar nichts passiert. Gehen wir hier entlang?“

Mei shi. So einfach? Zwei Silben und alle Schuld war weg? Frech, ungerufen erschien Gregor vor Alicias Augen. Seine Lippen unter dem Schnauzbar­t formten ein Wort. Bürzelchen. Entschloss­en wischte sie das Bild beiseite. Sie befand sich auf der Gregor-Serowy-Gedenkreis­e, dies war ihr Pfund Weihrauch für den Toten. Mehr Verzeihen konnte niemand erwarten.

Ein Gitter lief neben dem Trottoir entlang, dahinter befand sich ein Schulhof. Eine Glocke schlug, eine Tür öffnete sich und ein Trupp Kinder stürmte auf den Hof. Die Jungs als Kung-Fu-Kämpfer, mit in der Luft wirbelnden Armen und Beinen. Als sie die Fremden erblickten, stoppten sie ihren Lauf, streckten die Finger aus, platzten vor Lachen. Ein paar der Jungs griffen sich andere und zerrten sie mit sich. FORTSETZUN­G FOLGT

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