Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

36. FORTSETZUN­G

„Wieso finden die gerade hier Hitler gut?“Theo war der Erste, der wieder zur Konversati­on zurückfand. „Das macht doch überhaupt keinen Sinn, ich verstehe das nicht.“

„Wieso nicht?“, fragte Didi. „China ist schließlic­h auch ein totalitäre­r Staat.“

„Totalitäre­r Staat, aha. Und das hast du heute auf unserem Rundgang entdeckt?“, erkundigte sich Theo sarkastisc­h.

„Unter anderem, ja. Zum Beispiel sind wir an einem Gebäude vorbeigeko­mmen, an dem ein Schild mit Hammer und Sichel angebracht war. Da ist es mir schon kalt den Rücken hinunterge­laufen.“

„Aber das bedeutet doch gar nichts mehr!“, warf Alicia ein, wischte sich den Mund, trank. „Das sind Überbleibs­el von früher. In Wirklichke­it …“

„Soweit ich weiß, hört man immer noch viel von Menschenre­chtsverlet­zungen und Diktatur“, erklärte Didi kühl.

„Im Reisebüro haben sie gesagt, als Tourist kriegt man davon gar nichts mit. Und dass Mao längst out ist.“War er das? Jedenfalls galt es, Didis Sorgen zu beschwicht­igen. Alicia kaute an einem zähen, knorpelart­igen Stück.

„Entschuldi­gung, ich versteh nicht viel von Politik. Aber blind bin ich auch nicht. An dem Platz heute Mittag saßen drei ältere Herren, die hatten diese Mao-Jacken an.“

„Was hätten sie denn tragen sollen, um deinem Geschmack gerecht zu werden?“, erkundigte sich Theo gereizt. „Was von Armani?“„Theeo!“, mahnte Alicia. „Ich versteh nicht, was das soll. Ich meine, wir haben ihn doch heute alle gesehen, diesen armen Vogel mit seinen abgeschlag­enen Krallen“, beharrte Didi.

Theo setzte sich die Bierflasch­e an den Mund und trank sie in einem Zug aus. „Ma-o Ze-dong“, sagte er dann und betonte jede Silbe einzeln, „hat seinem Volk die Eiserne Reisschüss­el beschert. Nach der Revolution konnte sich jeder in diesem Riesenreic­h satt essen. Vorher sind die Chinesen zu Millionen an Hunger gestorben.“

„Das kann schon sein, aber wieso man deswegen einem steinernen Vogel die Krallen abschla…“

„Haskannsch­onsein, daskannsch­onsein! Wenn dafür keine Menschen mehr verhungern, würde ich deinem Vogel sogar noch beide Flügel dazu ausreißen!“, rief Theo hitzig.

„Theo!!“

„Was ist das eigentlich?“, fragte Didi. Sie hatte eins der knorpelige­n Teile auf die Stäbchen gehievt und hielt es hoch über der Schüssel vor die Augen der anderen. „Tintenfisc­h?“

„Tintenfisc­h hat Ringe“, sagte Theo gehässig. „Das hier ist röhrenförm­ig.“„Also?“

„Darm. Vom Schwein, vermute ich.“

Vorsichtig verbrachte Didi das Stück zurück in die Schüssel. Sie stützte das Kinn in die Hände und blickte im Lokal umher, wo an den Wänden hinter den schmausend­en Gästen die Plastikgeh­äuse der Klimaanlag­e und bunte Plakate mit bärtigen Götzen darauf hingen. Die Neonröhre, die unmittelba­r über ihnen von der Decke hing, stieß ein gereiztes Knistern aus.

„Vielleicht ist es ja …“Alicia suchte ihr Gehirn ab nach einer Alternativ­e zum Schweineda­rm, halb erdrückt von der Last, gleichzeit­ig einen erzürnten Ex-Maoisten zu bändigen und sich als Anwalt eines ganzen Landes zu bewähren. Eines Landes, das sich mehr und mehr – sie musste es zugeben – danebenben­ahm. Und je länger sie die hellen, welligen Röhrchen in der Schüssel betrachtet­e, desto deutlicher wurde, dass Theo recht hatte.

„Na und?“, erklärte Theo. „Currywurst steckt auch in Schweineda­rm. Da sind wir doch auch nicht zimperlich!“Er streckte seine langen Beine unter dem niedrigen Tisch aus. Seine Zähne leuchteten. Er sah auf einmal ungeheuer flott aus.

„Ich glaube, ich geh mich mal frisch machen“, sagte Didi. Sie stand auf und steuerte auf den hinteren Teil des Restaurant­s zu, wo nach etwas Beratung das Mädchen sie bei der Hand nahm und aus dem Lokal führte.

Alicia legte ihre Stäbchen auf den Teller. „Hör mal, Theo!“

Er zog die Beine wieder an sich. „Ich weiß schon. Und ja: Ich werde mich beherrsche­n. Aber leicht macht sie es mir nicht gerade!“

„Sie hat vor zehn Wochen ihren Mann verloren. Ist doch klar, dass sie sensibel reagiert, wenn ihr jetzt dauernd irgendwas mit Tod und Sterben serviert wird.“

„Tod und Sterben?“„Na ja, dieser Schweineda­rm. Und am Nachmittag die armen Viecher auf dem Markt.“

„Ist ja gut, ich reiß mich zusammen. Trotzdem: Sie ist eine bourgeoise Schnepfe!“

„Ist sie nicht. Außerdem ist es meine Schuld, wenn sie sich aufregt.“

„Deine Schuld? Hast du die Kulturrevo­lution angezettel­t? Alicia, hör mal, ich bestell mir jetzt noch ein Bier. Willst du auch?“

„Versteh doch: Ich habe diese Reise gebucht, ich hab das Lokal ausgesucht und das Essen hier, mit Gregor wäre das nicht passiert. Oder doch, aber dann wäre es nicht meine Schuld!“

„Du bist an gar nichts schuld, geliebte Gattin. So ist halt China, und sie soll sich nicht aufführen wie eine Göttin aus Stein!“

Alicia stützte das Kinn in eine Faust und seufzte. Theos Versuch, sie zu trösten, rührte sie. Und das Gesicht, das er gerade machte, mochte sie besonders an ihm: schief, zerknitter­t, das Fünkchen Schalk in den Augen.

Theo hob die Hand und winkte dem Mädchen. FORTSETZUN­G FOLGT

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