ALICIA JAGT EINE MANDARINENTE
39. FORTSETZUNG
Wenn er sechshundert Yuan am Tag rausschlagen könnte, würde er den Auftrag annehmen.
Elias wartete. Der Osten ist rot war verklungen. Jetzt schlug die Turmuhr noch acht Mal. Dann wählte er die Nummer, die Schnitzler ihm aufgeschrieben hatte.
Didi
DRAUßEN VOR DEM SHATAN-HOTEL war es noch ruhig, nur ein paar Radfahrer glitten rundrückig an ihr vorbei, irgendwo zog ein Mann rasselnd den Rotz die Nase hoch. Ein livrierter Boy legte einen roten Teppich auf die Straße, auf dem unter den chinesischen Zeichen in Gold das Wort Tuesday eingewebt war, und verbeugte sich lächelnd. Eine Straße weiter, am Eingang des Parks, paradierte ein junger Polizist. Noch wehte eine graue, kühle Luft über Beijing.
Die einzige Chance auf Ruhe, dachte sie, während sie sich hinter einen federleichten, weißhaarigen Herrn an die Kasse stellte. Ping zufolge war um diese Uhrzeit im Park noch nichts los. Gestern Nachmittag hatte der Ort auf sie gewirkt wie ein weiterer Schock. Bei „Park“hatte sie an Waldesruhe gedacht, an die Kühle, die von Moos und Stein ausgeht, einen Kuckucksruf, der kokett die Stille unterbricht. Im Kohlehügelpark hätten Kuckucke keine Chance gehabt gegen den allgemeinen Lärm. An jeder Ecke standen riesige Chorgruppen und sangen laut und hymnisch, als wollten sie ein Parlamentsgebäude einweihen, unmittelbar daneben quäkten Akkordeon- und Lautenspieler auf ihren Instrumenten; eine unendliche Kakophonie ungeordneter Töne. Chinese-a people aaa too loud, hatte Mr Wu kopfschüttelnd erklärt, they aaa too many-a and too loud, und dabei gelacht wie ein Vater, der die hoffnungslos missratene Nachkommenschaft vorstellt.
Er hat recht, entschied sie. Bis jetzt hatte sie die Bewohner dieses Landes ausschließlich in Horden erlebt, schreivier end, spuckend, einander rempelnd. Sie hätte nicht gedacht, dass ihr Chinesen so missfallenwürden.
Wie um ihr Ressentiment zu bestätigen, drängelten sich, gerade als sie ihre Eintrittskarte lösen wollte, zwei junge Frauen vor. Schwatzend zahlten sie ihre Tickets und trabten durch das Eingangstor. Und gleich dahinter noch einer, ein Mann. Klein und wendig wie ein Hündchen schlüpfte er an ihrer Hüfte vorbei. Sie überlegte, ob sie ihn auf sich (und auf seine Dreistigkeit) aufmerksam machen sollte, aber gehemmt durch jahrelange gute Erziehung wartete sie ab, bis niemand mehr eine Karte begehrte. Dann trat sie durch die eiserne Drehtür.
Der Park lag vor ihr in unwirklicher Ruhe. Auf dem Hügel oberhalb der Bäume sah sie die geschwungenen, bunt bemalten Dächer eines Pavillons. Sie beschloss, dort hinaufzugehen, zog ihre Strickjacke enger um sich und schritt zügig dahin. Fehler Nummer eins, dachte sie, die kindische Idee mit dem verloren gegangenen Zettel. Wer war so naiv, ihr das zu glauben? Madame Bovary fiel ihr ein, sie hatte den Roman vor vielen Jahren gelesen, die Lügen dieser provinziellen Frau, ihr schafartiger Mann. Alicia war aber kein Schaf (wenn auch provinziell). Und Alicia würde sich an die Adresse erinnern, sie hatte es ja schon angekündigt. Das ganze Manöver war umsonst. Der Zettel war übrigens wirklich nicht mehr da, vor einer halben Stunde hatte sie ihn zerfetzt und in der Hoteltoilette hinuntergespült.
Fehler Nummer zwei – sie hielt kurz an, um zu verschnaufen, ihr Blick fiel auf ältere, dünne Chinesinnen, die ein paar Meter entfernt standen, sie rieben sich gegenseitig Rücken und Nacken und streiften Didi mit einem verstohlenen Blick – Fehler Nummer zwei: ihr gestriger Ausbruch gegenüber Theo. Wieso denn bloß Theo? Theo war ihr immer egal gewesen, ein Mann, der sich für Weltpolitik interessierte, der diesen chinesischen Diktator mit der Warze am Kinn verteidigte (hatte sie bisher nicht gewusst), der die Chinesen wertschätzte, indem er sie als Masse sah (sie besaßen weder als Masse noch als Individuen Reiz), Theo war das Schaf, seit wann brüllte sie Schafe an?
Sie setzte sich auf eine Bank. Vor ihr, durch etliche Höhenmeter getrennt, lag wie ein Amphitheater ein großer gemauerter Platz. Durch die Zweige der Kiefern vor ihr schimmerte eine zinnoberrote Wand.
Heute Nachmittag würden sie also alle zusammen Peking nach dieser Ente absuchen. Einen Alleingang (ihr ursprünglicher Plan) würde Alicia in ihrer Fürsorge nicht gestatten. Zudem stand die Dolmetscherin bereit, irgendwie würden sie es schaffen. Dann kämen die Fragen. Wer zum Teufel ist Britta? Kennen wir die? Eine Mandarinente – von Gregor, aber nicht für die Ehefrau? Didi, sag uns, was da los war!
Der Platz vor der roten Wand unten bevölkerte sich mit Gestalten in Trainingsanzügen, durch den Schleier aus Zweigen sah sie Männer und Frauen, alle auf einmal streckten sie den rechten Arm aus, in der Hand einen geschlossenen Fächer. Eine Stimme aus einem Lautsprecher befehligte die Tänzer in sanftem Tonfall, als wolle sie ihnen gut zureden: „yi … er … san … si …“, die ganze Truppe glitt in weiten Schritten zur Seite, neigte sich, die Fächer folgten oder zogen eigene Bahnen über die Köpfe der Tänzer. Dazu entsandte der Lautsprecher eine weiche Melodie mit aufschluchzenden Flöten. Sag uns, was los ist! Würde sie dann zusammenbrechen und gestehen?
FORTSETZUNG FOLGT