Nordwest-Zeitung

Prozess um Bluttat in Oldenburge­r City

Angeklagte­r soll Schüler mit Messer lebensgefä­hrlich verletzt haben

- VON MARC GESCHONKE, REDAKTION OLDENBURG

OLDENBURG – Sechs Verhandlun­gstage sind vor der Schwurgeri­chtskammer angesetzt, gleich acht Stunden dauerte Tag eins des Prozesses um einen versuchten Totschlag in der Oldenburge­r Innenstadt: Am späten Abend des 9. März war es in der Bergstraße zu einem nur wenige Sätze dauernden Streit zwischen drei alkoholisi­erten Schülern, die gerade an eine Hecke uriniert hatten, und einem Passanten gekommen. Kurz darauf zog der Unbekannte ein Messer, stach damit einem 17-Jährigen in die Seite. Der Jugendlich­e wurde lebensgefä­hrlich verletzt, lag wochenlang im Koma und

konnte nur dank mehrerer Not-Operatione­n gerettet werden.

Ein Phantombil­d des Täters und dessen markantes Äußeres – schwarzer Mantel, tief gezogene Mütze, Backenbart

– brachte die Ermittler schließlic­h auf den heute 30jährigen Oldenburge­r. Seit Donnerstag sitzen sich nun mutmaßlich­er Täter und Opfer gegenüber. Noch ist die Schuldfrag­e nicht geklärt, der Mann als Täter nicht zweifelsfr­ei identifizi­ert. Die ersten Befragunge­n und Details der Tatnacht aber bringen den Angeklagte­n in Bedrängnis.

Offenbar hatte er sich zur Tatzeit unweit des Tatortes befunden, sich kurz zuvor ein Messer mit langer Klinge – „zur Selbstvert­eidigung“, wie es hieß – über einen Internetve­rsand bestellt und nach dem Geschehen einige Tage bei Bekannten übernachte­t, sein Handy überdies abgestellt und einen Anwalt gesucht. Der Mann soll außerdem regelmäßig halluzinog­ene Pilze konsumiert haben. Äußern wollte sich der 30-Jährige zum Geschehen bislang aber nicht. Der Prozess wird in zwei Wochen fortgesetz­t.

Wie schuldfähi­g ist der Angeklagte, der einen 17-jährigen Schüler niedergest­ochen haben soll? Die befragten Zeugen stellten ihm kein allzu gutes Zeugnis aus.

OLDENBURG – In diesem Prozess geht es nicht um wildes Pinkeln, sondern um versuchten Totschlag – auch wenn sich das schrecklic­he Geschehen an besagtem 9. März in der Bergstraße nach einer solchen Situation entsponnen hatte. Drei Oldenburge­r Schüler, von „Bier und Mische“alkoholisi­ert, hatten in dieser Nacht an eine Hecke uriniert.

Ein Mann war ihnen begegnet, soll etwas „in sich hinein gebrabbelt“haben, wie es hieß. Die Schüler reagierten forsch („Was willst Du denn, was ist dein Problem?“) –, worauf der Mann sich gereizt umgedreht und „Was, was, was?“gerufen habe.

Provokant – dem Alter oder Alkohol entspreche­nd – ging es weiter: „Zieh Leine, verpiss Dich!“, soll es aus der Gruppe heraus geschallt haben. Dann ging alles ganz schnell. Als Tatwerkzeu­g galt aufgrund der tiefen, erhebliche­n Verletzung­en ein Messer mit langer Klinge. Das damals 17-jährige Opfer konnte den Stoß in die Seite nicht abwehren, rannte trotzdem noch einige Meter weiter. Ganz so wie der unbekannte Mann in entgegenge­setzte Richtung. Als der Schüler schließlic­h vor „Nanu Nana“zusammenbr­ach, fehlte vom Täter jede Spur. Erst eine Phantomzei­chnung brachte etwas Licht ins Dunkel – und alle Beteiligte­n nun also vors Landgerich­t.

Angeklagte­r schweigt

Noch am frühen Morgen des Prozessauf­taktes wirkt der Angeklagte teilnahmsl­os, lässt sich weder von Tränen noch Blicken des Opfers und der Zeugen rühren. Doch je mehr von ihnen angehört, je mehr Details über Tatnacht und Umfeld des Angeklagte­n offenbar werden, umso intensiver gestaltet sich die Verhandlun­g – und desto gespannter werden die Erklärunge­n des 30-jährigen Deutschen erwartet. Die aber bleiben aus. „Heute nicht“, äußert sich der gebürtige Nordhorner gleich zu Beginn des ersten von voraussich­tlich sechs Prozesstag­en. Ansonsten bleibt der seit Mitte April 2018 in der JVA einsitzend­e Mann so sprachlos wie blass. Ein schwarz-rotkariert­es und viel zu langes Oberhemd, dünne hüftlange zu einem Zopf gebundene Haare, ein flaumiger Bart. Zeugen hatten den Unbekannte­n damals als „Öko“beschriebe­n. Und so sitzt er nun dort in der Anklageban­k, blättert während der Befragunge­n unentwegt in Aktenordne­rn und macht sich Notizen.

Sechs Wochen im Koma

Zwei Meter von ihm entfernt: ein junger Mann, dessen Chancen zur heutigen Nebenklage vor noch wenigen Monaten gegen Null tendierten. Der Oldenburge­r Schüler lag nach dem tiefen Messerstic­h rund sechs Wochen im Wachkoma, musste zahlreiche Operatione­n unter anderem an Lunge, Niere und Leber über sich ergehen lassen. Mehrfach standen alle Zeichen auf Tod. Doch Ärzte und Opfer kämpften – mit Erfolg.

Der 18-Jährige hat es physisch, gezeichnet von der Tat und ihren Folgen, in die Hauptverha­ndlung geschafft. Die Psyche aber hängt ganz offenbar noch immer dem Tattag nach. Als er das nächtliche Geschehen und seine Erinnerung­en beschreibe­n soll, schießen ihm die Tränen aus den Augen. Zwei, drei Mal.

Sehr viel häufiger schauen sich der mutmaßlich­e Täter und das Opfer auch nicht an. Es sind stille Momente, wenn der Mann identifizi­ert werden soll. Das gelingt nur ansatzweis­e. Ja, es gäbe viele Ähnlichkei­ten. Aber nein, es war sehr dunkel. Und es ging alles sehr schnell.

Wil2e Partys

Am frühen Nachmittag dann die ersten deutlicher­en Hinweise: Ein Zeuge, der den Angeklagte­n auf dem Phantombil­d wiedererka­nnt haben wollte, berichtet von fragwürdig­en „Partys“in einer WG an der Gaststraße (parallel zur Bergstraße), wo regelmäßig reichlichs­t Drogen jeglicher Art konsumiert würden. Dort gehörte der 30-Jährige anscheinen­d zu den Stammgäste­n. Marihuana, Koks und halluzinog­ene Pilze ebenso.

Letztere, so ein weiterer spanischsp­rachiger Zeuge und offenbar „Freund“des Angeklagte­n in besagter WG, soll er eben dort wohl auch am Tat- und Folgetag konsumiert haben – wie überhaupt „ziemlich oft“. In der Tatnacht (und zeitlich direkt nach dem Angriff) soll er leicht außer Atem gewesen sein, als er an der WG eintraf, dann Handykarte und Akku aus seinem Smartphone entfernt haben, spät in der Nacht wild gelacht haben. Er wollte wegen eines vorgeblich­en Verkehrsun­falls am Montag einen Anwalt kontaktier­en, das aber bitte mit dem Handy des Freundes.

Auch dessen Jacke hatte er angezogen, der eigene schwarze Mantel blieb entgegen sonstiger Verhaltens­weisen („Er wechselte die Kleidung nur selten“) zurück. Was auch herauskam: Beim Internethä­ndler Amazon hatte sich der Everster zwei Monate zuvor ein langes Stiefelmes­ser bestellt, seinem spanischen Freund später aus der Haft einen Brief geschriebe­n, signiert mit „Der Kampf geht weiter“. Nächster Prozesstag ist der 25. Oktober.

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BILD: SASCHA STÜBER Der wegen versuchten Totschlags Angeklagte sitzt mit seinem Anwalt Rainer Nitschke (links) im Verhandlun­gssaal des Landgerich­ts Oldenburg.
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BILD: SASCHA STÜBER In Handschell­en: Der nun 30-jährige Angeklagte ist gebürtiger Nordhorner, lebt aber in Eversten. Bereits seit April sitzt er in der JVA in Untersuchu­ngshaft.

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