Prozess um Bluttat in Oldenburger City
Angeklagter soll Schüler mit Messer lebensgefährlich verletzt haben
OLDENBURG – Sechs Verhandlungstage sind vor der Schwurgerichtskammer angesetzt, gleich acht Stunden dauerte Tag eins des Prozesses um einen versuchten Totschlag in der Oldenburger Innenstadt: Am späten Abend des 9. März war es in der Bergstraße zu einem nur wenige Sätze dauernden Streit zwischen drei alkoholisierten Schülern, die gerade an eine Hecke uriniert hatten, und einem Passanten gekommen. Kurz darauf zog der Unbekannte ein Messer, stach damit einem 17-Jährigen in die Seite. Der Jugendliche wurde lebensgefährlich verletzt, lag wochenlang im Koma und
konnte nur dank mehrerer Not-Operationen gerettet werden.
Ein Phantombild des Täters und dessen markantes Äußeres – schwarzer Mantel, tief gezogene Mütze, Backenbart
– brachte die Ermittler schließlich auf den heute 30jährigen Oldenburger. Seit Donnerstag sitzen sich nun mutmaßlicher Täter und Opfer gegenüber. Noch ist die Schuldfrage nicht geklärt, der Mann als Täter nicht zweifelsfrei identifiziert. Die ersten Befragungen und Details der Tatnacht aber bringen den Angeklagten in Bedrängnis.
Offenbar hatte er sich zur Tatzeit unweit des Tatortes befunden, sich kurz zuvor ein Messer mit langer Klinge – „zur Selbstverteidigung“, wie es hieß – über einen Internetversand bestellt und nach dem Geschehen einige Tage bei Bekannten übernachtet, sein Handy überdies abgestellt und einen Anwalt gesucht. Der Mann soll außerdem regelmäßig halluzinogene Pilze konsumiert haben. Äußern wollte sich der 30-Jährige zum Geschehen bislang aber nicht. Der Prozess wird in zwei Wochen fortgesetzt.
Wie schuldfähig ist der Angeklagte, der einen 17-jährigen Schüler niedergestochen haben soll? Die befragten Zeugen stellten ihm kein allzu gutes Zeugnis aus.
OLDENBURG – In diesem Prozess geht es nicht um wildes Pinkeln, sondern um versuchten Totschlag – auch wenn sich das schreckliche Geschehen an besagtem 9. März in der Bergstraße nach einer solchen Situation entsponnen hatte. Drei Oldenburger Schüler, von „Bier und Mische“alkoholisiert, hatten in dieser Nacht an eine Hecke uriniert.
Ein Mann war ihnen begegnet, soll etwas „in sich hinein gebrabbelt“haben, wie es hieß. Die Schüler reagierten forsch („Was willst Du denn, was ist dein Problem?“) –, worauf der Mann sich gereizt umgedreht und „Was, was, was?“gerufen habe.
Provokant – dem Alter oder Alkohol entsprechend – ging es weiter: „Zieh Leine, verpiss Dich!“, soll es aus der Gruppe heraus geschallt haben. Dann ging alles ganz schnell. Als Tatwerkzeug galt aufgrund der tiefen, erheblichen Verletzungen ein Messer mit langer Klinge. Das damals 17-jährige Opfer konnte den Stoß in die Seite nicht abwehren, rannte trotzdem noch einige Meter weiter. Ganz so wie der unbekannte Mann in entgegengesetzte Richtung. Als der Schüler schließlich vor „Nanu Nana“zusammenbrach, fehlte vom Täter jede Spur. Erst eine Phantomzeichnung brachte etwas Licht ins Dunkel – und alle Beteiligten nun also vors Landgericht.
Angeklagter schweigt
Noch am frühen Morgen des Prozessauftaktes wirkt der Angeklagte teilnahmslos, lässt sich weder von Tränen noch Blicken des Opfers und der Zeugen rühren. Doch je mehr von ihnen angehört, je mehr Details über Tatnacht und Umfeld des Angeklagten offenbar werden, umso intensiver gestaltet sich die Verhandlung – und desto gespannter werden die Erklärungen des 30-jährigen Deutschen erwartet. Die aber bleiben aus. „Heute nicht“, äußert sich der gebürtige Nordhorner gleich zu Beginn des ersten von voraussichtlich sechs Prozesstagen. Ansonsten bleibt der seit Mitte April 2018 in der JVA einsitzende Mann so sprachlos wie blass. Ein schwarz-rotkariertes und viel zu langes Oberhemd, dünne hüftlange zu einem Zopf gebundene Haare, ein flaumiger Bart. Zeugen hatten den Unbekannten damals als „Öko“beschrieben. Und so sitzt er nun dort in der Anklagebank, blättert während der Befragungen unentwegt in Aktenordnern und macht sich Notizen.
Sechs Wochen im Koma
Zwei Meter von ihm entfernt: ein junger Mann, dessen Chancen zur heutigen Nebenklage vor noch wenigen Monaten gegen Null tendierten. Der Oldenburger Schüler lag nach dem tiefen Messerstich rund sechs Wochen im Wachkoma, musste zahlreiche Operationen unter anderem an Lunge, Niere und Leber über sich ergehen lassen. Mehrfach standen alle Zeichen auf Tod. Doch Ärzte und Opfer kämpften – mit Erfolg.
Der 18-Jährige hat es physisch, gezeichnet von der Tat und ihren Folgen, in die Hauptverhandlung geschafft. Die Psyche aber hängt ganz offenbar noch immer dem Tattag nach. Als er das nächtliche Geschehen und seine Erinnerungen beschreiben soll, schießen ihm die Tränen aus den Augen. Zwei, drei Mal.
Sehr viel häufiger schauen sich der mutmaßliche Täter und das Opfer auch nicht an. Es sind stille Momente, wenn der Mann identifiziert werden soll. Das gelingt nur ansatzweise. Ja, es gäbe viele Ähnlichkeiten. Aber nein, es war sehr dunkel. Und es ging alles sehr schnell.
Wil2e Partys
Am frühen Nachmittag dann die ersten deutlicheren Hinweise: Ein Zeuge, der den Angeklagten auf dem Phantombild wiedererkannt haben wollte, berichtet von fragwürdigen „Partys“in einer WG an der Gaststraße (parallel zur Bergstraße), wo regelmäßig reichlichst Drogen jeglicher Art konsumiert würden. Dort gehörte der 30-Jährige anscheinend zu den Stammgästen. Marihuana, Koks und halluzinogene Pilze ebenso.
Letztere, so ein weiterer spanischsprachiger Zeuge und offenbar „Freund“des Angeklagten in besagter WG, soll er eben dort wohl auch am Tat- und Folgetag konsumiert haben – wie überhaupt „ziemlich oft“. In der Tatnacht (und zeitlich direkt nach dem Angriff) soll er leicht außer Atem gewesen sein, als er an der WG eintraf, dann Handykarte und Akku aus seinem Smartphone entfernt haben, spät in der Nacht wild gelacht haben. Er wollte wegen eines vorgeblichen Verkehrsunfalls am Montag einen Anwalt kontaktieren, das aber bitte mit dem Handy des Freundes.
Auch dessen Jacke hatte er angezogen, der eigene schwarze Mantel blieb entgegen sonstiger Verhaltensweisen („Er wechselte die Kleidung nur selten“) zurück. Was auch herauskam: Beim Internethändler Amazon hatte sich der Everster zwei Monate zuvor ein langes Stiefelmesser bestellt, seinem spanischen Freund später aus der Haft einen Brief geschrieben, signiert mit „Der Kampf geht weiter“. Nächster Prozesstag ist der 25. Oktober.