Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

42. FORTSETZUN­G

Sein linker Mundwinkel hatte sich nach unten verzogen, die Brauen stießen verärgert zusammen.

Sie standen so nahe zusammen, dass sie die Poren auf seiner Nase sehen konnte. „Wieso? Woher willst du das wissen?“

„Weil du solches Larifari redest! Den kleinen Dingen mehr Beachtung schenken … Typisches Höhere-TöchterGes­chwätz! Deswegen unter anderem haben wir ein distanzier­tes Verhältnis!“

Sein wir ermutigte sie, obwohl sie blitzartig ihren Fehler erfasst hatte und auch, was bei Theo zog. „Meine Güte, bist du moralisch! Wie ein Pfaffe! Ich war unkonzentr­iert – okay. Ich habe darüber nachgedach­t, warum du dieses Volk hier so hochschätz­t und warum ich das nicht tue. Mir gehen die Chinesen nämlich auf die Nerven. Jetzt schon. Ich wollte, ich wäre nicht mitgekomme­n!“Ihr Atem ging schneller, sie spürte, wie sie wirklich wütend wurde.

„Du kannst also doch reden wie ein normaler Mensch?“

„Ich verstehe nicht, warum die sich dauernd so lautstark von ihren … Körpersäft­en trennen müssen. Ich finde dieses Spucken grässlich, die ganze Zeit hebt sich mein Magen.“

„Hast du Angst, du könntest dich irgendwie anstecken?“

„Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Nein, es ist einfach – ich mag das ganze Zeug nicht, sämtliche Ausscheidu­ngen: Kot, Sperma, Schweiß, Tränen. Wenn man mich bei der Konstrukti­on beteiligt hätte, hätte ich mir eine andere Bauweise einfallen lassen!“

„Du hättest Menschen ohne Mund und Unterleib gebaut?“

„Ich hätte Reißversch­lüsse eingesetzt. Unter den Achseln. Abwaschbar, hautfarben. Höchstens die Schieber ein bisschen gestaltet. Kleine rote Rauten für Chinesen, blaue Bälle für Mexikaner, so was in der Art.“

Er blinzelte ungläubig. „Dekoration – das ist wirklich das Wichtigste für dich, ja?“

„Geht dich das eigentlich etwas an? Ich meine, ich mische mich doch auch nicht in deinen Maoismus ein. Von mir aus kannst du gern Kulturdenk­mäler einreißen. Fang mit dem Kolosseum an, Herr Lateinlehr­er!“

„Das ist schon länger her, das mit dem Maoismus.“

„Aber du hast das mal gut gefunden.“

Er antwortete nicht, ging mit langen Schritten. In großen und kleinen Flecken fiel die Sonne durch das Laub der Büsche auf den Boden. „Wieso eigentlich?“Er runzelte die Stirn. „Wegen … der sozialen Frage natürlich. Und die DDR oder Russland – das war nicht so mein Fall. China fand ich okay …“

„Das glaube ich dir jetzt mal nicht“, unterbrach sie ihn.

„Dann lass es sein.“„Wie alt warst du damals?“Wieder sonderte er sein Schnauben ab. „Wenn du auf Jugendsünd­e plädieren willst …“

Sie spürte, wie er bockig wurde. „Was bist du jetzt? Oberstudie­nrat?“, sagte sie leichthin. „Oder Revolution­är?“

„Meine Güte, das war ich doch nie!“

„Nie?“

„Das war halt die Zeit an der Uni. Vollversam­mlungen, Demos, Diskussion­en. So was gab’s. Und dann kam ja schon Alicia.“

„Alicia war auch …?“„Alicia hatte zu der Zeit wirkliche Sorgen, keine vorgestell­ten. Wusstest du, dass sie ein Jahr lang als Postbotin gearbeitet hat, damit sie sich das Studium finanziere­n kann?“

„Natürlich“, sagte sie und fragte sich, wie er darauf kam, dass sie so etwas wissen könnte. Massen von Chinesen, alte, junge, pulsierten durch das Eingangsto­r, wieder nahm sie wahr, wie sie und Theo von allen Seiten angestarrt wurden. „Alicia ist ein ganz erstaunlic­her Mensch“, sagte sie. „Ich habe sie immer bewundert.“

Theo schüttelte den Kopf. „Sie war so süß und frech. Als ich sie nach Hause zu meinen Eltern mitgenomme­n habe – sofort ist sie in den Kirschbaum geklettert und hat mit der Ernte angefangen! Mein Vater wusste gar nicht, wie ihm geschieht.“

Sie ging schweigend neben ihm. Jedes Mal wenn er den Namen Alicia aussprach, versetzte ihr das einen kleinen Stich. Er liebt sie, dachte sie. Es ist chancenlos. Aber war das möglich? Ernsthaft?

„Und dann?“, fragte sie und betrachtet­e ihn von neuem. Sein Mund war doch in Ordnung, befand sie. Auf einmal stieg Theos Wert unaufhalts­am wie eine plötzlich überall nachgefrag­te Aktie.

„Dann wurde alles ziemlich normal. Studium, Beruf, Heirat.“Sein Gesicht nahm einen mürrischen Ausdruck an.

Sie waren am Ausgang angekommen. Davor standen ein paar Männer und malten kalligraph­ische Zeichen auf die Steinquade­r am Boden. Ihre besengroße­n Pinsel tauchten sie in Wasser, die staubige Luft verwandelt­e die Schriftzei­chen zurück in grauen Stein, ehe sie fertig geschriebe­n waren.

„Sehr lange hält es nicht“, sagte sie und kam sich gleich darauf töricht vor.

„Das ist ja das Schöne daran. Epikur hätte es gefallen.“„Aha?“

„Eben wegen der Vergänglic­hkeit. Ich denke, der hätte hier bei den Taoisten mitgemisch­t.“

„Taoisten? Was

„Soweit ich weiß heißt Tao nur Weg.“

„Mao, Tao. Wie praktisch – wenn man nur zwei Buchstaben zu vertausche­n braucht!“ Religiöses?“

FORTSETZUN­G FOLGT

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