Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL 44. FORTSETZUN­G

„Was hat denn mein Beruf damit zu tun?!“

Alicias Stimme war eine Tonlage nach oben geklettert. Pings Herz begann zu klopfen. Das Wohlbefind­en der Gäste, dachte sie und warf einen bangen Blick auf Manager Wu. Bekam er etwas mit von der sich anbahnende­n Aufregung?

„Theo meint es, glaube ich, nicht böse“, sagte Didi sanft, „lassen wir den Streit! e es as a er ire

Ping nickte, sie hatte zwei Jahre Französisc­h gelernt.

„Was?“, fragte Alicia und bewirkte, dass Ping ihr vorwitzige­s Nicken auf der Stelle bereute.

Alicia biss sich auf die Bippen. „Ist okay“, sagte sie.

Pings Blicke wanderten von Alicia zu Theo, dann zu Didi. Die Stimmung war nicht mehr ganz so gereizt wie eben, das spürte sie. Die Dame Didi hatte irgendwie für Harmonie gesorgt. Aber gleichzeit­ig hatte sie Alicia auch das Gesicht genommen, glücklich sah Alicia jedenfalls gerade nicht aus, zwischen ihren Brauen hatte sich eine feine, senkrechte Falte gebildet.

Ping mochte Alicia. Alicia war die Erste gewesen, die sie am Flughafen angesproch­en hatte. Bei ihrer Erklärung, im Urlaub lernen zu wollen, hatte Ping sofort sich selbst vor Augen gehabt, als junge Pionierin mit rotem Halstuch, die gelobte, fleißig für den Aufbau des Sozialismu­s zu lernen. „Sie sind Behrerin?“, fragte sie höflich. „Er auch“, sagte Alicia mit einem kurzen Schwenk ihres Kinns zu Theo, der soeben den Tempel betreten wollte, einen Fuß schon über der hölzernen Schwelle.

„Bitte nicht mit Fuß berühren!“, mahnte Ping.

„Oh!“Gerade noch glitt Theos Fuß jenseits der hölzernen Schwelle auf den Boden. Dann nahm er Alicia bei der Schulter und drückte sie kurz. „Sorry, Alicia.“

War alles wieder gut? Es sah so aus. Ping hoffte es jedenfalls. „Gehen wir zum Wandelgang?“, schlug sie vor. Manager Wu schien die Führung ganz ihr zu überlassen, er schlendert­e hinter der Gruppe her, während sie aus dem Kai serie eiizitiert­e:„D er Wandelgang wurde erbaut von KaiserQian­long “– neben ihr nickteAlic­ia heftig –„ er ist siebenhund­ert achtundzwa­nzig Meter lang und besitzt siebenhund­ert vierundzwa­nzig Säulen paare .“In Wirklichke­it waren es siebenhund­ert drei und zwanzig–seisd rum! Die nächste Zahl entsprach ja schon wieder der Wahrheit: „Und mehr als achttausen­d Bilder!“

„Achttausen­d? Wahnsinn!“, sagte Alicia.

Ping spitzte die Ohren. „Wahnsinn? Sie sagen so auf Deutsch?“Ein neues Wort – interessan­t!

„Hier hat der Kaiser mit seinen Konkubinen gelebt“, fuhr sie fort, „auch ihre Zahl war Wahnsinn.“

Die beiden Frauen hinter ihr begannen zu lachen, die Atmosphäre schien sich tatsächlic­h wieder zu entspannen. Auch Ping wurde wieder leichter zumute. Nach dem gestrigen Desaster mit dem

r e e is hatte sie heute noch bei jeder gefährlich­en Stelle einen eleganten Ausweg gefunden. Manager Wu hätte nichts auszusetze­n an ihr. Und der Sommerpala­st war herrlich. Wie das Bicht durch die vielen schlanken Säulen flutete. Es hinterließ bizarre Flecken auf dem Boden, die das grün und rot bemalte Dach reflektier­ten wie schillernd­e Öllachen. Jenseits der gemauerten Balustrade war schon der Kunming-See zu sehen, kleine Wellen schwappten gegen die Mauer.

„Was passierte eigentlich mit den Frauen, wenn der Kaiser starb?“, erkundigte sich Theo. „Mussten die dann ins Kloster? Oder mit ins Grab?“

„Sein Sohn wurde neuer Kaiser und hat alle bekommen, Gattinnen und Konkubinen.“

„Wie? Die Gattinnen auch? Und wenn eine davon seine Mutter war?“, fragte Alicia. Ping lächelte und nickte. Didi runzelte die Stirn. „Das ist ja … Wie finden das die heutigen Chinesen? Wie finden Sie das, Ping?“„Ich finde es komisch.“Sie kicherte. „Komisch?“, fragte Didi. „Es ist immerhin Inzest!“

Ping nickte. „Ich finde auch, es geht nicht. Wie soll der Kaiser die Dame dann nennen? ei e er? Oder

ei e a i ? Er hat keinen Namen für sie!“

„Ja?“, interessie­rte sich Theo. „Das ist das Wichtigste daran?“

Ping nickte. „Es ist enorm wichtig.“Jeder hatte einen Namen für die anderen. Einen Namen für die Eltern, für den Chef, für die Freunde. Sie selbst wurde Kusine oder Tochter oder Kleine Schwester oder ia e, Kleine Ye gerufen. Behrer sprach man mit a s i an – bis auf Roland Ackermann, der eine Ausnahme war wegen der Menschenre­chte.

Sie hatten den KunmingSee erreicht. „Das Marmorboot“, sagte Ping und zeigte auf das Schiff, das sich zweistöcki­g und steinern aus dem Wasser erhob, als könne es schwimmen. Wie sehr sie dieses Wort liebte – Ma-MooaBoot. Geschriebe­n sah es Ehrfurcht gebietend schwierig aus, aber beim Sprechen ließ es sich so leicht über die Zunge schieben wie ein lauwarmes Dampfklößc­hen. „Das Ma-Mooa-Boot wurde erbaut von der Witwe des Kaisers.“„Mit etwas Unterstütz­ung durch ihr liebes ’olk, nehme ich an.“Theo schmunzelt­e, hörte aber damit auf, als er Didi sprechen hörte: „Architekto­nisch ist es jedenfalls bemerkensw­ert“, sagte Didi.

Als sie gestern gehört hatte, dass die große Dame Didi hieß, hätte Ping am liebsten gekichert. Didi – so rief man in China den ei e r er. Hätte sie Didi an diesem Spaß über ihren Namen teilhaben lassen sollen?

FORTSETZUN­G FOLGT

Newspapers in German

Newspapers from Germany