Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

45. FORTSETZUN­G

Aber ein Gefühl sagte ihr, dass bei dieser Frau Vorsicht angebracht war, irgendein Ärger schwebte über ihr, dachte Ping. Leichter Ärger nur, aber wie hieß es im Gedicht? Es ist Wind im Pavillon, bevor das Gewitter kommt.

Doch eigentlich fand sie diese ihre ersten Gäste sehr nett. Alle drei waren überaus höflich, sie bedankten sich bei ihr und bei den Mädchen im Restaurant, wenn sie Tee brachten. Heute hatte sie gehört, wie Theo sich bei einem Passanten entschuldi­gte, den er am Eingang zum Sommerpala­st angerempel­t hatte. Er sprach deutsch, der andere nahm gar nichts wahr von dem Gesagten. Sonst hätte er wohl die Welt genauso wenig verstanden wie Ping: Pausenlos rempelten sich die Leute in Beijing, ohne je auf die Idee zu kommen, sich zu entschuldi­gen oder eine Entschuldi­gung zu erwarten.

Ihr zweiter Tag mit den Gästen verlief jedenfalls besser als der erste, Ping war zufrieden. Sie begann die kleine Melodie zu summen, die sie heute Morgen an der Bushaltest­elle gehört hatte, dann fiel ihr auch der Text wieder ein: „I wish you a merry damda, I wish you a merry damda, I wish you a merry damda …“

Alicia stimmte ein: „… and a happy New Year“, sangen sie gemeinsam, während sie zum Ausgang gingen, wo die Buden für Nudeln und Spießchen standen.

„Ping“, sagte Alicia, „darf ich Sie noch mal was fragen?“Sie schlüpfte mit ihrem Teller jiaozi neben sie und sprach mit gesenkter Stimme. Auf der anderen Seite des Tisches hatten Theo und Didi die Köpfe zusammenge­steckt und schienen etwas zu betuscheln. „Ich war da. In dieser Dazhalan-Straße.“

„Sie sind sehr mutig!“„Ich habe eine Ente gefunden.“

„Oh! Mein Glückwunsc­h!“„Danke. Ich weiß bloß nicht, ob es die richtige ist. Weil …“Alicia sprach nun noch leiser, „ich habe mich inzwischen an das zweite Wort erinnert: La. Tang La und noch irgendwas. Fällt Ihte nen dazu vielleicht eine Adresse ein?“

Ping legte den Kopf in den Nacken und probierte im Geist ein paar Kombinatio­nen der vier Tonhöhen aus: Táng Lá. Táng Lá. Táng La. Táng La. „Das ist kein Name für einen Ort.“

„Tang La. Oder Ma.“

Ping schüttelte den Kopf. „Was wünscht die Dame?“, erkundigte sich Mr. Wu.

Von der anderen Seite des Tisches wandte sich plötzlich die Dame Didi an sie: „Sagen Sie, gibt es eigentlich auch etwas Taoistisch­es in Beijing? Einen Tempel vielleicht?“

„Natürlich“, sagte Ping, verwirrt über den Themawechs­el. „Tempel der Weißen Wolken. Ist bisschen weit von hier.“

„Ja?“, sagte Didi. „Wie weit denn?“

Alicia biss auf ihrer Unterlippe herum. „Tang Lang“, flüsterte sie. „Nein, Tang Lao …“

„Tao-Tempel“, sagte Theo. „Wie lange fährt man dahin?“

„Mit dem Taxi neunzig Minuten“, sagte Ping und hoffte, dass die Hauptverke­hrszeit noch nicht begonnen hätte. Wenn sie in die Rushhour gerieten, konnte es doppelt so lange dauern.

„Hört mal, wollt ihr beide nicht zu diesem Tempel fahren?“, fragte Didi. „Und ich suche derweilen in dieser Dazhalan-Straße nach meiner Ente?“

Alicia erwachte aus ihrer Versenkung. „Unmöglich!“, rief sie. „Das schaffst du niemals, Didi. Die Straße ist endlos, riesig, du wirst dich verlaufen! Ich bin heute Morgen da spazieren gegangen.“„Ach?“

„Ja, als du dich im Park verirrt hast. Und wegen deiner Ente – Fehlanzeig­e! Ich konn- ja nicht einmal danach fragen. Da spricht keiner Englisch.“

Ping saß aufrecht da. Was war das, was hörte sie da? Die Dazhalan sollte endlos lang und ein Labyrinth sein? Das war eine Gasse, kaum einen Kilometer lang, äußerst übersichtl­ich. Und natürlich sprachen die meisten Händler dort Englisch, wie sonst könnten sie den Ausländern in dieser Gegend etwas verkaufen? Außerdem – hatte Alicia ihr nicht gerade erzählt, dass sie eine Ente erstanden hatte? Wieso sagte sie die ganze Zeit die Unwahrheit? Dann noch dieses letzte Wort: Fehlanzeig­e. Ping hörte es zum ersten Mal, es verkleiner­te ihre Unruhe keineswegs. Jemand hatte einen Fehler gemacht. Und dann würde es eine Anzeige geben? Bedeutete es etwas in dieser Richtung? Scheu schaute sie auf Alicia, ihr heiteres, sommerspro­ssiges Gesicht.

Plötzlich riss Alicia die Augen weit auf. „Jetzt!“, flüsterte sie. „Tang Lang. Glaube ich.“

Ping wechselte einen Blick mit Mr. Wu.

„Was will die Dame?“, fragte ihr Chef.

Das Wohlgefühl der Gäste, dachte Ping. Laut sagte sie „Tanglang ist ein Insektenna­me. Wollen Sie nicht Ente, sondern Insekt kaufen?“„Ein Insekt?“, fragte Didi. „Vielleicht möchten die Gäste Heuschreck­en probieren?“, rätselte Mr. Wu. „Auf der nördlichen Seite von der Wangfujing gibt es sehr gute. Frag sie, ob sie mazha wünschen!“

„Mein Chef möchte wissen, ob Sie gern … ob Ihnen H-H…, ich meine Insektenar­ten schmecken.“

„Insektenar­ten? Welche Insekten?“, wiederholt­e Theo.

Ping spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Das richtige Wort war eins von der brandgefäh­rlichen Sorte. Sollte sie stattdesse­n Gottesanbe­terin sagen? Es wäre nicht völlig gelogen, so lautete immerhin die deutsche Entsprechu­ng für Alicias tanglang. Aber das, was Manager Wu meinte, war etwas anderes.

FORTSETZUN­G FOLGT

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