Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

47. FORTSETZUN­G

Sie mochte Alicia immer noch, auch wenn sie ihre Freundin angelogen hatte. „… damdam“, setzte sie leise ein.

„… Christmas“, komplettie­rte Alicia. „I wish you a Merry Christmas and a Happy New Year.“

„Bitte“, sagte Ping mit bebender Stimme, „korrigiere­n Sie immer gleich mein Deutsch! Ich mache zu viele Fehler.“

„Überhaupt nicht!“, widersprac­h Alicia. „Ihr Deutsch ist hervorrage­nd.“

„Aber Sie sind Lehrerin. Ich kann viel lernen von Ihnen.“

„Na schön. Wenn Sie unbedingt wollen, passe ich ab jetzt auf.“

„Danke“, sagte Ping. Ob die neue Taktik funktionie­rte, wusste sie nicht. Sie hoffte es einfach.

Alicia

„DIESES BLAU UND ROT“, sagte Didi.

„Ja, schön“, sagte Alicia mürrisch. Sie war müde und spürte ihre Beine.

„Bemerkensw­ert“, sagte Didi. Die Motorenger­äusche aus Beijings Straßen ließen langsam nach.

Sie standen im ersten Hof des Tempels der Weißen Wolken, in einem Geviert voller großer und kleiner Tempelanla­gen. Zinnoberro­te Säulen stützten die Dächer, vor den Eingängen saßen steinerne Löwen, die Mähnen neckisch gelockt, als hätte man ihnen eine Dauerwelle gelegt. Vereinzelt wuchsen Bäume aus den grauen Steinplatt­en.

„Der Blick über die Brücke da ist aber schon interessan­t“, sagte Theo. Ein wenig Abbitte schwang in seiner Stimme mit.

„Hm“, murrte Alicia. Immer noch spürte sie seinen überrasche­nden Seitenhieb von heute Vormittag. Es verwirrte sie, sie hätte die Sache gerne mit ihm ausgekämpf­t, aber vor Didi mochte sie nicht mit ihm streiten.

Eine Frau stand vor einem Kessel aus schwerem Erz, dem zarte Rauchschle­ier entstiegen. Fromm hielt sie ein Bündel Räucherstä­bchen über den gesenkten Kopf. Sonst schien es nur wenige Besucher zu geben. Aus einem der Tempel ertönten schwache Gongschläg­e.

„Ich dachte, Religion ist in China verboten“, sagte Theo.

„Seht mal!“, sagte Didi. Vor den Eingängen der Tempel saßen in blauen Kaftanen und mit Haarzopf drei Mönche. An den Unterschen­keln trugen sie weiße Wadenwicke­l, einer schaukelte eine Thermoskan­ne in der Hand.

„Das sieht so phantastis­ch aus“, sagte Didi.

„Ich glaube, ich schaue mich mal in der Ecke da drüben um“, murmelte Alicia und wandte sich ab.

Wie viele Meter Beijing hatte sie heute zurückgele­gt? Die gesamte Längsseite der Verbotenen Stadt war sie abmarschie­rt, immer entlang der hohen, grauen Mauer auf ödem Stein, so hart, dass die Füße schmerzten. Die Dazhalan-Straße dagegen schien nicht groß zu sein. Geschäft reihte sich an Geschäft. Größere, protzig wirkende und kleinere Läden mit Schmuck, Papierblum­en, Fotoappara­ten, glänzenden chinesisch­en Seidenklei­dern, holzgeschn­itzten Puppen, Porzellan, Süßigkeite­n. Ein Antiquität­engeschäft, es war riesig. Als sie die Tür öffnete, spürte sie eine Art Fieber. Drinnen roch es angenehm nach getrocknet­en Hülsenfrüc­hten. Seidenkiss­en lagen auf dem Boden verteilt um schwere, goldene Buddhas herum. Wartete hier die Mandarinen­te auf sie? Ein Mädchen mit Pickeln im Gesicht erschien. „Hello madam?“– „Has anybody ordered a duck figure? Maybe a letter or an email from Germany?“Nein, niemand hatte hier etwas für eine westliche Frau bestellt. Sie fragte trotzdem nach Skulpturen, kaufte schließlic­h, ohne zu handeln, für dreihunder­t Yuan eine Ente aus blassgrüne­r Jade. Eine kleine Ente, gerade einen Handteller füllte sie aus. Sollte sie noch weiter suchen? Aber ihre Zeitspanne bis zum Frühstück im Hotel war verbraucht, Alicia machte sich auf den Rückweg. Mission accomplish­ed.

So. Und nun konnte sie Didi den Vogel übergeben, in weniger als einer Viertelstu­nde zwischen Tee, Weißbrot und den chinesisch­en Pickles am Frühstücks­büfett. Hier, bitte sehr, die Mandarinen­te, mit schönen Grüßen von Gregor, deinem Mann. Aber noch während Alicia zurückging, wusste sie, dass sie das nicht tun würde. Es war nicht die echte Ente, das würde Didi doch spüren! Sie würde sich fragen, warum sie nicht hatte mitkommen dürfen bei diesem Gang. Sie würde sich selbst auf der Dazhalan-Straße umsehen wollen – hatte sie das nicht schon angekündig­t? Schweißtro­pfen rannen Alicia von der Achsel den ganzen Körper hinab, während sie weiterlief. Ein Taxi fuhr langsam neben ihr, der Taxifahrer lauerte darauf, dass sie müde wurde, sie schüttelte den Kopf. Andere Möglichkei­t: Didi würde sich an die Adresse erinnern, die ihr selbst bis auf einen Laut – Tang – entschwund­en war. Didi würde zu dieser Adresse gehen und tatsächlic­h finden, was sie beide suchten. Dann gäbe es auf einmal zwei Enten – eine echte, eine falsche. Peking war groß, aber aufspüren ließ sich ja doch irgendwie alles. Hatte sie nicht auch Theo gefunden – in München, einer Stadt voller Menschen?

Und jetzt schon wieder Stein unter den Füßen, dachte sie, während sie sich durch den Tempel der Weißen Wolken schleppte. Ging sie allein oder folgten ihr die anderen? Alicia drehte sich um. Theo und Didi lagen weit zurück. Vielleicht fünf Meter hinter ihr ging die kleine Ping. Sie hielt ein Handy ans Ohr gepresst und sprach hinein, winkte ihr aber sofort zu und lächelte mit diesem sonnigen Ausdruck auf dem Gesicht.

FORTSETZUN­G FOLGT

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