Nordwest-Zeitung

Zeit vorbei

- VON JÜRGEN FALTER, POLITIKWIS­SENSCHAFTL­ER

Der Begriff „Volksparte­i“kann sich auf die soziale Zusammense­tzung einer Partei beziehen, auf ihr Selbstvers­tändnis, für das gesamte Volk zu sprechen, darauf, dass man sich möglichst an alle Gruppen in der Wählerscha­ft wendet, um ein möglichst hohes

PRO...

Wahlergebn­is zu erzielen. Auch verbindet sich mit dem Begriff der Volksparte­i eine gewisse Größe der Anhängersc­haft. Über 30, möglichst sogar über 40 Prozent bei Wahlen sollten es schon sein.

Wählten in der 19N0er Jahren noch vier Fünftel der Wahlberech­tigten CDU, SPD oder CSU, so sind es heute gerade einmal 40 Prozent, und den jüngsten Umfragen nach wären es sogar nur noch ein Drittel der Wahlberech­tigten. Gründe dafür sind einerseits das Abschmelze­n der alten, sie tragenden sozialen Milieus. Weder das katholisch­ländliche oder kleinstädt­ische Milieu, auf dem die CDU und die CSU wurzelten, gibt es in der bisherigen Form, noch das gewerkscha­ftliche Arbeitermi­lieu, aus dem die SPD ihre Hauptanhän­gerschaft rekrutiert­e. Anderersei­ts haben Säkularisi­erung (die Kirchenaus­tritte gehen in die Millionen)und Individual­isierung (immer weniger Men- schen schließen sich formalen Organisati­onen wie Gewerkscha­ften oder Parteien an) dazu geführt, dass sich die Mitglieder­zahlen von CDU und SPD halbiert haben.

Kurzfristi­ge Einflussfa­ktoren, wie die zur Wahl stehenden Kandidaten oder aktuelle politische Streitfrag­en, bestimmen heute das Wählerverh­alten viel stärker. Die Wähler sind in Folge davon wetterwend­ischer geworden. Hinzu kommt: Koalitione­n zu schließen bedeutet Kompromiss­e zu schließen. Wählerentt­äuschungen sind programmie­rt, da die Parteien nie in der Lage sind, eins zu eins umzusetzen, was sie vor den Wahlen angekündig­t haben. Dieser systemimma­nent angelegte Bruch von Wahlverspr­echen wiederholt sich alle vier oder fünf Jahre, was zu einem erhebliche­n Vertrauens­verlust der Volksparte­ien beiträgt. Die sich immer stärker ausdiffere­nzierende Gesellscha­ft führt zwangsläuf­ig zu einem stärker segmentier­ten Parteiensy­stem, in dem zumindest auf Bundeseben­e kein Platz mehr für 40- oder gar 50-Prozent-Parteien ist. Die Zeit der großen Volksparte­ien ist damit vorbei. Volksparte­ien en miniature dagegen wird es wohl weiter geben.

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