ALICIA JAGT EINE MANDARINENTE
49. FORTSETZUNG
„Ja, haben Sie denn als Kind in der Schule nichts über all diese Dinge gelernt? Das gehört doch zu Ihrer Kultur!“
„Nein. Gar nichts.“Ping sah Alicias Gesicht und brach in verlegenes Kichern aus. „Ich bin Materialistin“, beschwichtigte sie sie. „Wir haben in der Schule Historischen Materialismus gelernt.“
„So, so.“Alicia unterdrückte ein Lächeln.
„Aber meine Tante mag Tao. Sie geht zu einem Meister und macht mit ihm Übungen. Es ist sehr berühmter Meister. Sogar Ausländer kommen zu ihm und lernen sein Qigong.“
„Sogar Ausländer!“, wiederholte Alicia amüsiert.
„Wenn Sie möchten, meine Tante kann einen Termin mit dem Meister arrangieren. Er kann vielleicht Horoskop für Sie machen!“
„Ich glaube, über meine Zukunft will ich lieber nichts wissen“, sagte Alicia und dachte an Theo, der bei Aussichten auf ein Horoskop wahrscheinlich einen atheistischen Anfall bekäme.
Ping trat an ein Schild voll chinesischer Zeichen. „Der Klostergarten“, las sie vor. „Hier leben die Mönche.“
Zwischen scharfkantigen grauen Steinen ragten vereinzelt hutzelige Bäume empor. Wisperstill war es. Im Hintergrund reihten sich Pavillons aneinander, die Frontseiten zeigten Bilder, die aus Hunderten bemalter Fliesen zusammengesetzt waren.
„Jessas“, sagte Alicia, „das hier ist ja richtig fetzig!“
Das Bild zeigte eine Gruppe wilder Gestalten, die über ein schaumgekräuseltes, blaues Meer brauste; eine Frau war darunter, eine Art Priester, ein Junge. Der Wind ließ ihre langen, bunten Kleider flattern; auf einem Esel reitend, auf einer Trommel, schwenkten sie Gegenstände in den Händen: Flöte, Pfeife, Schriftrolle. Allen voraus saß rittlings auf einem großen, langbeinigen weißen Vogel ein kühn blickender, bärtiger Mann. Das ganze Ensemble wirkte bizarr, ein wildes, fröhliches Durcheinander.
„Die Acht Unsterblichen!“, rief Ping erfreut. „Die kenne ich!“
„Ach! Also doch! Aus der Schule, ja?“
„Nein, vom Fernsehen.“„Vom … na, okay. Und das sind jetzt also Götter?“
„Noch nicht. Sie müssen eine P…, einen Test bestehen. Danach sie werden Götter.“Zufrieden blies Ping sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Einen Test bestehen?“Aliciafielwiederein,wiePingsie vor ein paar Stunden um Korrektur ihrer Fehler gebeten hatte. „Vielleicht meinten Sie eine Prüfung? Das wäre der passendere Ausdruck.“Sie wunderte sich über sich selbst: Wenn sie für sich nach einem geeigneten Wort suchte, schlug sie regelmäßig ihr Malapropismus nieder. Und nun, bei Ping, flogen ihr die Vokabeln zu wie gut dressierte Brieftauben. Sie trat näher heran, um die acht Prüfungskandidaten zu studieren. „Der Vogel da vorne – das ist doch ein … warten Sie mal …“
„Storch!“, sagte Ping blitzschnell. „Der Unsterbliche reitet in den Himmel auf Storch.“
„Wirklich? Ich hätte jetzt geschworen, das ist ein Kranich.“
Ping schwieg und senkte den Kopf.
„In China trägt einen also der Storch in den Himmel? Ist ja Wahnsinn! Bei uns bringt er nämlich die Babys auf die Erde.“
„Ja“, bestätigte Ping mit immer noch hängendem Kopf. „Es ist Wahnsinn.“
Eine Plastiktüte flatterte über den Boden, ein Mönch mit fettigem Haar und Mobiltelefon am Ohr schlurfte vorbei.
Am Ausgang trafen sie auf die beiden anderen.
„Na?“, fragte Alicia, ohne Theo anzusehen. „Wie war’s?“
„Sehr, sehr eindrucksvoll!“, antwortete Didi. „Taoismus – das hat was. Auf alle Fälle. Fahren wir nun zu dem Antiquitätengeschäft auf der Dazhalan-Straße?“
„Weißt du, dass Ping einen taoistischen Meister kennt? Einen, der sich auf Ausländer spezialisiert hat?“, fragte Alicia zurück. Horoskop hin, Aberglaube her – dies war die einzige Karte, die ihr jetzt noch im Ärmel steckte.
„Und der lebt hier in Peking?“, fragte Didi.
„Ich muss nur meine Tante anrufen. Haben Sie Interesse?“Ping zückte ihr Handy und ging ein paar Schritte beiseite.
„Ähm, wird das jetzt irgend so ein Mummenschanz mit Wahrsager und Kristallkugel?“, fragte Theo.
Ping hatte aufgehört zu telefonieren. „Meine Tante sagt, es passt gut heute. Sie hat den Meister schon angerufen. Es ist sehr vorzüglicher Meister.“
„So schnell geht das?“, fragte Didi.
„Ja“, lachte Ping glücklich. „Es geht immer schnell alles in China.“
„Ja, dann …?“Didi blickte erst Theo an, dann Alicia.
„Im Ernst? Wir sollen uns in die Hände eines Zauberers begeben?“, fragte Theo. Er hatte sein Zahnwehgesicht aufgesetzt, Alicia kannte es von den Besuchen bei seinem Vater, wenn der ihn mit einer als Philosophie getarnten Wiedergabe seiner letzten Sonntagspredigt zu unterhalten versuchte.
„Doch!“, sagte Alicia mehr zu Didi als zu ihm. „Ein Zauberer ist jetzt genau das Richtige!“
„Wenn Sie noch zu Dazhalan und einkaufen wollen“, warf Ping ein und versetzte damit Alicias Herz in neuen Aufruhr, „das ist auch keine Schwierigkeit. Alle Geschäfte bei uns haben auf sehr lange. Sie können shoppen die ganze Nacht!“
„Wo sind wir hier?“
Das Taxi hielt vor einem Hochhaus.
„Ein Hospital. Meister Cheng arbeitet da als Herzspezialist.“