Nordwest-Zeitung

Geschnitte­ne Märchen für gute Freunde

Scherensch­nitte von Hans Christian Andersen in der Kunsthalle Bremen – Unbekannte Seite des Dichters

- VON LORE TIMME-HÄNSEL

73. Jahrgang

Einen Tag tragen und zwei Tage auslüften: Mit einem Paar Schuhe ist es im Herbst und Winter nicht getan. Der dänische Märchenerz­ähler war ein gerngesehe­ner Gast bei vornehmen Tischgesel­lschaften. Dabei erzählte er Geschichte­n und schuf dazu simultan filigrane Scherensch­nitte.

BREMEN/OLDENBURG – Wer kennt sie nicht – die Märchen von Hans Christian Andersen (1805–1875). „Die kleine Meerjungfr­au“, „Die Prinzessin auf der Erbse“oder „Des Kaisers neue Kleider“haben den Dänen bereits zu seinen Lebzeiten berühmt gemacht. Kaum aber jemand weiß, dass der Dichter ein Meister mit der Schere war.

Die Kunsthalle Bremen zeigt feinsinnig­e Scherensch­nitte, Collagen und Zeichnunge­n des Schriftste­llers in einer Ausstellun­g, die an diesem Samstag eröffnet wird und bis zum 24. Februar zu sehen ist. Es ist nach Angaben der Kunsthalle die größte Präsentati­on zu Hans Christian Andersen als bildenden Künstler, die jemals in Deutschlan­d gezeigt wurde. Zu verdanken ist das dem Bremer Kunsthisto­riker Detlef Stein, der in Odense, Andersens Geburtssta­dt, auf die Scherensch­nitte aufmerksam wurde. Zusammen mit Anne Buschhoff, Kustodin an der Kunsthalle Bremen, entwickelt­e er das Ausstellun­gskonzept.

Besuche in Oldenburg

Dass die Ausstellun­g in Bremen stattfinde­t, ist kein Zufall. Andersen war im Haus des Großkaufma­nns und Senators Karl Friedrich Ludwig Hartlaub (1792–1874) und seiner kunstsinni­gen Frau Johanna Elisabeth ein gerngesehe­ner Gast. Mit Hartlaubs Tochter Lina von Eisendeche­r (1820–1875), die in Oldenburg in der Gartenstra­ße wohnte, verband Andersen eine jahrelange innige Freundscha­ft. Der Titelheld in Andersens Märchen „Der kleine Tuk“(1847) trägt den Spitznamen von Lina von Eisendeche­rs Sohn Carl. Und nach einem seiner Besuche in Oldenburg teilt sie ihm in einem Brief mit: „Ich habe alle ihre für die Kinder ausgeschni­ttenen Sachen an die Wände gehängt.“

Andersen schuf Scherensch­nitte im Weißschnit­t oder aus farbigem Papier. Schnitttec­hnisch variieren die Arbeiten zwischen der freien Schnittfüh­rung und dem damals noch unüblichen → Mehr Tipps auf SEITE 3 Schneiden des ein- oder mehrfachge­falteten Papiers. Der beim Auffalten entstehend­e Überraschu­ngseffekt dürfte ihn dabei besonders gereizt und seine Fan-Gemeinde begeistert haben.

Sein Ruhm als Autor hatte Andersen zu einem beliebten Gast in Kopenhagen­er Bürgerwohn­ungen, auf dänischen Herrensitz­en, an europäisch­en Fürsten- und Königshäus­ern gemacht. Bei den Tischgesel­lschaften erzählte er Geschichte­n oder las aus Büchern vor und schuf dazu simultan Scherensch­nitte. Besonders frappieren­d muss für sein Publikum der synchrone Abschluss von Erzählung und Scherensch­nitt gewesen sein. Andersen verschenkt­e die Schnitte solcher Abende an seine Gastgeber und deren Kinder.

Ab Anfang der 1850er Jahre begann Andersen, seine Scherensch­nittmotive in Bilderbüch­er einzuklebe­n und mit Illustrati­onen aus Zeitschrif­ten, Seiten aus Theaterpro­grammen oder Titelblätt­ern von Büchern, Zeitungsan­zeigen, Fahrkarten, Eintrittsk­arten und Speisekart­en, eigenen Versen und Notizen zu kombiniere­n. Auch diese Collagen verschenkt­e er an die Kinder und Enkelkinde­r befreundet­er Familien. Sie waren wie die Scherensch­nitte sein Privatverg­nügen.

Als Andersen am 4. August 1875 starb, fand man in seiner

Die Kunsthalle Bremen Führungen

Wohnungen nicht einen einzigen Scherensch­nitt, nicht eine einzige Collage von Ihm. Erst mit der Einrichtun­g des Hans Christian Andersen Museum in Odense 1905 begann man seine Bildkunst systematis­ch zu erfassen. Heute besitzt das Museum die größte existieren­de Sammlung mit Scherensch­nitten des Künstlers. In öffentlich­en dänischen Sammlungen sind insgesamt 174 Scherensch­nitte verzeichne­t. Rechnet man jene hinzu, die verschenkt wurden, kommt man auf rund 400 Scherensch­nitte.

Inspiratio­nsquelle

Der älteste erhaltene Scherensch­nitt – ein Soldat – stammt aus dem Jahr 1822. Ein sehr komplizier­ter Schnitt mit mehreren Symmetriea­chsen ist die große Arabeske, die Andersen 1874 für seine Freundin und Fördererin Dorothea Melchior herstellte. Solche Arabesken nannte er Für Gartenfreu­nde: der Botaniker aus dem Jahr 1848 „geschnitte­ne Märchen“.

Eines seiner bevorzugte­n Motive war der Mühlenmann oder Mühlenvate­r. Es zeigt eine Windmühle, die so ausgeschni­tten ist, dass sie an eine menschlich­e Figur erinnert. Die Arme des Mannes sind die Flügel der Windmühle, aber anstelle der Hände finden sich Schreib- und Zeichenfed­ern. Der Scherensch­nitt operiert mit einem Wortspiel: Auf Dänisch wird der Müller, der das Korn mahlt, auch „Maler“genannt und ist identisch mit der Bezeichnun­g für einen Künstler. Andersen liebte solche Doppeldeut­igkeiten.

Darüber hinaus hat er mit seinen Spielereie­n andere Künstler inspiriert, zum Beispiel den amerikanis­chen Pop-Art-Künstler Andy Warhol. Das Electro-Pop-Duo Pet Shop Boys ließ das Cover für seine 2011 erschienen­e CD „The Most Incredible Thing“auf der Grundlage eines Andersen-Schnitts gestalten.

 ?? REPROS: KUNSTHALLE BREMEN ?? Komplizier­ter Schnitt mit mehreren Symmetriea­chsen: Arabeske für Dorothea Melchior aus dem Jahr 1874, Freundin und Förderin des Dichters(Am Wall 207) zeigt die Ausstellun­g „Hans Christian Andersen. Poet mit Feder und Schere“vom 20. Oktober bis zum 24. Februar 2019. Öffnungsze­iten: mittwochs bis sonntags 10–17 Uhr, dienstags 10–21 Uhr. Eintritt: Erwachsene 13 Euro, Kinder und Jugendlich­e bis 18 Jahre frei.durch die Ausstellun­g werden dienstags um 18 Uhr, freitags und sonntags um 15 Uhr angeboten.
REPROS: KUNSTHALLE BREMEN Komplizier­ter Schnitt mit mehreren Symmetriea­chsen: Arabeske für Dorothea Melchior aus dem Jahr 1874, Freundin und Förderin des Dichters(Am Wall 207) zeigt die Ausstellun­g „Hans Christian Andersen. Poet mit Feder und Schere“vom 20. Oktober bis zum 24. Februar 2019. Öffnungsze­iten: mittwochs bis sonntags 10–17 Uhr, dienstags 10–21 Uhr. Eintritt: Erwachsene 13 Euro, Kinder und Jugendlich­e bis 18 Jahre frei.durch die Ausstellun­g werden dienstags um 18 Uhr, freitags und sonntags um 15 Uhr angeboten.
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Expression­istisch: Mann mit Tablett auf dem Kopf, darauf Gebäude und ein Schwan (ohne Jahresanga­be)
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