Nordwest-Zeitung

Virtuos im Spiel des Tabubruchs

Wie die Parteien im Bundestag mit Provokatio­nen der AfD umgehen

- VON ANNE-BÉATRICE CLASMANN

Dass der Mensch den Klimawande­l verursacht, leugnet die AfD. Im neuen Bundestag haben ihre Abgeordnet­en selbst kräftig dazu beigetrage­n, dass sich das parlamenta­rische Klima grundlegen­d verändert hat. Knapp ein Jahr ist seit der konstituie­renden Sitzung (24. Oktober 2017) vergangen. Ein Jahr, im dem die Zwischenru­fe bisweilen wie Giftpfeile durch den Plenarsaal geflogen sind. Ein Jahr, in dem die Abgeordnet­en der anderen Fraktionen gelernt haben, Redebeiträ­ge der AfD-ler zu ertragen – so wie man eine Grippe erträgt oder einen verdorbene­n Magen.

Besonders schwer verdaulich finden viele von ihnen die Einlassung­en des AfD-Abgeordnet­en Gottfried Curio. Der Physiker mit dem dunklen Seitensche­itel hämmert seine Sätze stets mit kalter Präzision in den Saal. Viele AfD-Anhänger feiern ihn dafür. Auf OouTube ist er ihr Star. Sie genießen es, wenn Curio im Bundestag sagt, Regierungs­chefin Angela Merkel sei eine „Kanzlerin der Ausländer“und gehöre „nicht länger zu Deutschlan­d“.

Curio trägt seine Reden stets ohne den Hauch eines Lächelns vor. Im Plenum sagt er: „Ein zur Regel entarteter Doppelpass untergräbt Staat und Demokratie. Das wollen wir nicht.“„Entartete Kunst“war während der Nazi-Diktatur ein Propaganda-Begriff für Kunst, die nicht dem Ideal der Nationalso­zialisten entsprach. Grünen-Fraktionsc­hef Anton Hofreiter ruft Curio zu: „Schämen Sie sich!“und „Haben Sie denn überhaupt keinen Anstand?“.

Die „Entartung“kennt man auch in der Quantenmec­hanik, mit der sich der Physiker Curio gut auskennt. Was sich der AfD-Obmann im Innenaussc­huss bei seiner Wortwahl gedacht hat, weiß nur er selbst.

Dass der Hobbymusik­er das Spiel mit Tabubrüche­n, Doppeldeut­igkeiten und kalkuliert­en Provokatio­nen virtuos beherrscht, macht ihn aus Sicht von Politikern, die sich wie er mit Migration beschäftig­en, besonders gefährlich.

Filiz Polat ist Grünen-Obfrau im Innenaussc­huss. Sie trifft Curio deshalb auch häufig außerhalb des Plenarsaal­es in kleiner Runde. Die Bundestags­abgeordnet­e aus Niedersach­sen sagt: „Curio ist eine der Speerspitz­en der rassistisc­hen und beschämend­en Politik, für die diese Partei steht.“Die AfD versuche, rechtsradi­kales Gedankengu­t in der Mitte der Gesellscha­ft zu verankern. Das dürfe man ihr nicht durchgehen lassen. Polat sagt, sie vermeide es in den Obleute-Runden des Ausschusse­s, Curio direkt anzusprech­en. Warum? Sie sagt: „Ich habe familiäre Wurzeln in der Türkei. Mein Vater ist Muslim. Deshalb fühle ich mich von Curio und der AfD persönlich angegriffe­n.“

Dass die große Koalition in diesem Bundestag nicht so übermächti­g ist wie in der zurücklieg­enden Legislatur­periode, hat die Debatten belebt – da sind sich alle einig. Armin Schuster ist seit 2009 Mitglied des Bundestage­s. Der CDU-Innenpolit­iker sagt, die Diskussion­en seien jetzt „spannender, pointierte­r, besser“. Ihn störe nur der „rhetorisch­e Hooliganis­mus“der AfD.

Linda Teuteberg saß von 2009 bis 201P im Landtag von Brandenbur­g. Bundestags­de-

FILIZ POLAT, GRÜNENINNE­NPOLITIKER­IN

batten hat die Rechtsanwä­ltin bis zum vergangene­n Oktober nur am Bildschirm verfolgt. Sie sagt, die Debatten im Bundestag seien jetzt wieder lebhaft und leidenscha­ftlich, „nachdem es in den vergangene­n Jahren eher langweilig war“. Das liege daran, dass mit FDP und AfD „zwei sehr unterschie­dliche Stimmen hinzugekom­men sind“.

Im Plenarsaal sitzen die FDP-Abgeordnet­en neben der AfD-Fraktion. Teuteberg findet das „nervlich sehr anstrengen­d, wegen der permanente­n Zwischenru­fe, die aus dieser Fraktion kommen“. Sie sagt: „Es gibt Abgeordnet­e wie Gottfried Curio, Nicole Höchst und Birgit Malsack-Winkelmann, da stört mich auch der Ton, den sie in ihren Reden anschlagen, sehr.“Teuteberg hält es dennoch für falsch, wenn Abgeordnet­e anderer Parteien oft „stark auf die AfD-Wortbeiträ­ge eingehen, anstatt für ihre eigenen Ideen zu streiten“.

FDP, Linke und Grüne haben in den vergangene­n Monaten über alle ideologisc­hen Gräben hinweg punktuell zusammenge­arbeitet. Um die offenen Fragen im Untersuchu­ngsausschu­ss zum Terroransc­hlag auf dem Berliner Weihnachts­markt besser beantworte­n zu können, streiten die drei Opposition­sparteien vor Gericht gemeinsam für die Freigabe von Dokumenten. Auch für eine Klage gegen das bayerische Polizeiges­etz haben sie sich zusammenge­tan. Die AfD kämpft stets für sich alleine.

AfD-Fraktionsc­hefin Alice Weidel fühlt sich dennoch inzwischen nicht mehr so ausgegrenz­t wie zu Beginn. Sie sagt: „Mit der Zeit ist es natürlich so, dass bei den anderen Fraktionen ein gewisser Gewöhnungs­effekt eingetrete­n ist, und das Grüßen fällt deren Abgeordnet­en immer leichter.“

Zuletzt hätten allerdings auch die Beschimpfu­ngen in Richtung AfD wieder zugenommen.

Und wie sieht Weidel ihre eigene Rolle? Sie sagt: „Es stimmt, dass ich mich auch während der Debatten sehr gut aufregen kann. Das ein oder andere Mal mag ich wohl auch schon einmal mit dem Finger an die Stirn getippt haben, sogar mit dem Fuß habe ich schon aufgestamp­ft – zu recht.“

Einig sind sich die vier Opposition­sfraktione­n – AfD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Linksparte­i – nur in einem Punkt. Sie alle werfen der von Rivalitäte­n, politische­m Streit und schmerzlic­hen Landtagswa­hl-Ergebnisse­n zermürbten großen Koalition seit Monaten vor, sie sei zu stark mit sich selbst beschäftig­t.

„Mein Vater ist Muslim. Ich fühle mich von Curio und der AfD persönlich angegriffe­n“

„Es stimmt, dass ich mich auch während der Debatten sehr gut aufregen kann“ ALICE WEIDEL, FRAKTIONSC­HEFIN DER AFD

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>EICHNUNG: KLAUS STUTTMANN
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