Hessische Verhältnisse im Politiklabor der Republik
Frankfurt als Bankenzentrum mit viel Provinz drumherum – Regierungsbildung traditionell schwierig
Womöglich liegt es an der enormen Walddichte von 42 Prozent, dass in Hessen Konflikte eher rustikal ausgetragen werden. Schließlich wollte einst Ministerpräsident Holger Börner die Grünen spektakulär mit der Dachlatte aus dem Landesparlament vertreiben.
Ohnehin gehörten in grauer Vorzeit gewaltsame Auseinandersetzungen wie die um die Startbahn West am RheinMain-Flughafen, die Hanauer Brennelemente-Fabrik oder der Frankfurter Häuserkampf mit Ex-Sponti, Ex-Umweltminister und Ex-Vizekanzler Joschka Fischer an vorderster Front zur üblichen Verfahrensweise. Auch die Kulinarik gibt sich durchweg derb: Die wohlschmeckende Wurstspezialität „Ahle Wurschd“wird hier als Knüppel und Stracke gereicht.
„Hessische Verhältnisse“wurden zum in der Politik gebräuchlichen Ausdruck, um schwierige, oft aussichtslose Regierungsverhältnisse zu umschreiben. Nur einmal seit Gründung des Bundeslandes vor 73 Jahren mussten SPD und CDU koalieren – und das schon 1950. Ansonsten stand Hessen jahrzehntelang unter sozialdemokratischer Herrschaft, bis die Christdemokraten
1986 mit Walter Wallmann kurz und seit 1999 – dank Roland Kochs erfolgreicher Kampagne zur doppelten Staatsbürgerschaft – dauerhaft das Regiment in Wiesbaden übernahmen. Dazwischen lagen allerlei Skandale (Stichwort Helaba), Intrigen (Stichwort Ypsilanti), Stilistische Fehlgriffe (Stichwort Turnschuhe) sowie Genossen-Filz und ein Spendenskandal bei der CDU.
Man muss in Hessen geboren worden sein, um den raubauzigen Charme und das stoische Gemüt der sechs Millionen zwischen Kassel und Darmstadt, Gießen und Fulda lebenden Menschen zu verstehen und zu lieben. Die Kommunikation verläuft meist herzlich, ist dialektal gefärbt und wird unter beharrlicher Auslassung von Vokalen angewendet.
Das führt aber keineswegs zur Zurückhaltung: „Hessen vorn!“signalisierte in den 60er Jahren das Wirtschaftswachstum im Agrarflächenland, das „Mäh sin mäh“– auf Bayrisch „Mia san mia“– steht für hohe regionale Identität.
Dieses Selbstbewusstsein mussten die Hessen allerdings erst erlernen. Wegen der zentralen Lage war das Land von Zuwanderung geprägt. Man denke an Bad Karlshafen an der Weser, Walldorf und Neu-Isenburg – diese Städte sind Gründungen von Religionsflüchtlingen wie Hugenotten und Waldensern. Andere Orte wie Trutzhain wurden nach dem 2. Weltkrieg von Heimatvertriebenen gegründet. Die größte Gruppe, die in Hessen ansässig wurde, waren nach dem Zweiten Weltkrieg vertriebene Sudetendeutsche aus Böhmen und Mähren. In den 1960er Jahren kamen angeworbene Gastarbeiter aus Italien, Spanien, Jugoslawien und der Türkei ins Ballungszentrum Rhein-Main nach Frankfurt, Hanau und Offenbach.
„Ein Land in der Mitte und dennoch – ein entlegenes Land“, befand Schriftsteller Siegfried Lenz 1980 in seiner Erzählung „Seltsame Annäherung – die Ringgauer Wurstprobe“. Im Verlaufe der von ihm beschriebenen rustikalen Verkostung in der nordhessischen Provinz wurde viel Bier und Schnaps gereicht; wahrscheinlich seine Art, sich die Region schönzutrinken.