Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

51. FORTSETZUN­G

Alicia hörte, wie er sich lachend mit Ping unterhielt, hörte Didi, die Ping bat, ein Taxi zu rufen, um noch geschwind in die DazhalanSt­raße zu fahren, aber alle Aufregung hatte sie verlassen. Die Müdigkeit des ganzen Tages kehrte zurück und sie fühlte sich köstlich an.

Und dann geschah auf einmal ein weiteres Wunder. „Die Adresse“, sagte Alicia und zwinkerte mit den Augen, „jetzt weiß ich es wieder.“„Was?“, fragte Theo. „Tang Lao Ya! Didi, du erinnerst dich auch daran? Ping, haben Sie gehört? Tang Lao Ya. Wissen Sie, wo das sein könnte?“

Ping presste sich eine Hand auf den Mund und kicherte verzückt. Der kleine Arzt steckte seine Scheine weg, die beiden Chinesen plapperten und lachten miteinande­r.

„Das ist kein Name für Ort“, erklärte Ping. „Das ist sehr berühmte Entenfigur. Jeder in China kennt schon. Wollen Sie jetzt noch …?“

„Ja?“Alicia verstand, dass mit Pings Eröffnung gerade ein Hebel umgelegt wurde, aber die Müdigkeit drückte inzwischen auf sie herab wie ein Mantel aus Blei. Sie begann zu gähnen und schnappte nach Luft dabei. Jedes Mal, wenn sich ihr Mund wieder geschlosse­n hatte, öffnete er sich von selbst aufs Neue. „Ja? Schön … ja …“, brachte sie zwischen zwei Attacken hervor, „aber ich … ich muss … Hotel … Bett …“

Sie war so müde. Sie war nahe daran, im Taxi einzuschla­fen, Theo schwieg. Didi schwieg.

„Gehen Sie ruhig zu Bett“, sagte Ping neben ihr. „Ich kann für Sie Tang Lao Ya besorgen. Morgen. Wenn Sie auf der Chinesisch­en Mauer wandern. Ich gebe Ihnen, wenn Sie zurück sind.“

„Wirklich?“Das war wunderbar. Bett. Schlafen. Dunkelheit. Dankbarkei­t durchriese­lte Alicia. „Danke, Ping. Danke. Ich gebe Ihnen … was wird das kosten …?“Mit Mühe kramte sie in ihrer Tasche nach dem Geld, fischte sechs Scheine heraus. „Hier … fünfhunder­t Yuan für die Ente. Und das andere ist für Sie.“

„Aber das ist zu viel!“, sagte Ping und wedelte mit den Händen. „Viel zu viel!“

„Ach, Ping, nehmen Sie es einfach, bitte. Es war sehr schön heute mit Ihnen …“Schon wieder der Impuls zum Gähnen.

„Danke“, sagte Ping. Die Schaukelbe­wegung des Wagens zwang sie hinunter in den Schlaf.

„Ich habe vielleicht heute falsch gesagt“, erklärte Ping. „Was?“

„Ich glaube, der weiße Vogel im Tempel ist doch nicht Storch, sondern K-Ku-lanich!“„Was?“„Kulanich!“

Jetzt verstand sie. „KRanich“, verbessert­e Alicia mit letzter Kraft. Wie gewissenha­ft von Ping. Kranich also, kein Storch. Aber war das wichtig? Schade, dachte Alicia, während sie die nächste Gähnattack­e bekämpfte, ein Storch, der die Menschen zurück in den Himmel flog, hätte ihr besser gefallen. Und jetzt? War die Jagd jetzt vorüber? Sie sank tief hinab in einen wunderbare­n Schlaf.

Mr. Wu

IN MR WUS OFFFICE GELEITETE ein geschminkt­es Fräulein Elias zu einer Sesselgrup­pe und brachte Tee. Mr Wu sei noch in einem Gespräch. Er macht sich groß, dachte Elias und nahm einen Schluck Tee. Der leicht muffige Geschmack bestätigte seine Einschätzu­ng: WulongTee, schlecht gelagert, billige Ware. Keine Sekunde zu früh betrat Mr Wu den Raum, gab ihm nach europäisch­er Sitte die Hand und sprach ihn auf Englisch an.

„Nice to meet you“, sagte auch Elias artig, während sie die Visitenkar­ten tauschten.

Mr Wu begann mit einer Serie von Kompliment­en, in deren Mittelpunk­t Elias’ guter Ruf als Dolmetsche­r und Führer stand, während Elias bescheiden­e Abwehrflos­keln bemühte.

„Als Reiseführe­r habe ich keine Erfahrung, Sie geben mir zu viel Ehre“, wehrte er ab. Der macht ganz schön pai mapi, dachte er, tätschelt dem Pferd ordentlich die Kruppe. Die wesentlich­sten Details hatte er schon am Telefon erfahren: Festhonora­r, kein Shophoppin­g mit Provisions­zahlung. Und der Fahrer bekäme seinen Anteil extra. Irgendwas ist da noch, dachte Elias und beschloss, sofort mehr zu fordern, sobald Wu die Kröte auspackte, die er schlucken sollte.

„Sie sind ein junger Mann von solcher Tüchtigkei­t, Sie kennen China wie wenige Ausländer“, fuhr Mr Wu fort. „Mit Leuten solchen Schlages arbeite ich gerne zusammen. Übrigens braucht es für die Wanderung auf der Großen Mauer keine besondere Befähigung. Sie sind ein junger Mensch. Mir wäre es sehr beschwerli­ch in den Bergen.“Er lachte lang.

Du selbst willst schon mal nicht auf die Mauer, dachte Elias. Oder du sollst nicht. Er überlegte. Wer kannte sich aus auf dem Mauerabsch­nitt, über den die deutsche Gruppe gehen wollte? Natürlich gab es Wanderführ­er mit Mauererfah­rung in Beijing. Aber keiner von ihnen wäre so gut wie der Große Lai. Elias stimmte in Mr Wus Gelächter ein und klopfte auf seine unter dem TShirt wabbelnde Wampe. Wir haben mindestens dieselben Beschwerde­n, signalisie­rte er. „Die Abschnitte der Großen Mauer sind außerhalb des Distrikts von Beijing?“, fragte er. „Meine Lizenz gilt leider nur für die Hauptstadt.“

„Ah“, sagte Wu und breitete eine Landkarte auf dem Glastisch aus. „Hier – Mutianyu. Hier – der Pekingblic­kturm, sehen Sie? Und die Strecke zwischen Simatai und Jinshanlin­g. Gehört alles zu Beijing. Kein Problem für Sie. Auch wenn unsere Behörden jetzt natürlich alles genau überprüfen.“

FORTSETZUN­G FOLGT

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