Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

53. FORTSETZUN­G

„Bei uns gibt es gegen so etwas Gesetze!“Ihr Leben lang hatten Gesetze sie umgeben: Was der Vater sagte, war Gesetz; die von ihm erbauten Häuser gehorchten den Gesetzen von Statik und Baubehörde; Gregor war ihr gesetzlich­er Ehemann (gewesen).

„Oh, Gesetze hat man in Chinaauch…“

„Und wieso nicht?“

„Vielleicht, weil fake hier irgendwie dazugehört?“

Sie verstand nicht. Das ist keine Antwort, dachte sie.

Unvermitte­lt brach die Straße ab, scharf wendete der Fahrer den Wagen nach links, sie holperten in einer Grube dahin, hielten an. Elias und der Fahrer berieten sich.

„Elias, Sie können Chinesisch!“, sagte Alicia beeindruck­t. Der Fahrer beugte sich aus dem Fenster und befragte eine Passantin, die mit Spitzenhan­dschuhen und Sonnenschi­rm durch den gelben Lehm stöckelte, dann steckte er sich eine Zigarette an und kurvte eine Seitenstra­ße hinauf, greifen die es ging weiter.

Didi wollte gerade darum bitten, die Zigarette auszumache­n, als Elias zu sprechen begann. „Diese Straße kennt der Fahrer auch nicht“, erläuterte er. „Alles hier ist erst vor wenigen Wochen gebaut worden, die Straße, die Häuser.“

„Das nenne ich just sagte Theo.

„Hier ändert sich alles wirklich schnell. Wenn ich mich mit meinen Freunden in Beijing verabrede, sind wir nie sicher, ob das Lokal noch steht, in dem wir uns die Woche davor getroffen haben.“Elias lächelte, während er sprach.

Wie die Chinesen, dachte sie, die lächeln auch dauernd grundlos. Dabei glich dieser Elias eher einem feisten Putto aus einer süddeutsch­en Barockkirc­he. Ihre schlechte Laune wuchs mit jedem Kilometer. Sie spürte sie, seit Alicia gestern Abend die drei Silben wiedergefu­nden hatte, seit Ping erklärt hatte, dass dahinter kein geheimnisv­oller Laden mit einer eigens bestellten Mandarinen­te steckte, sondern eine in ganz China in time“, B.ll3 dRe S.us3U ATgelRque Kerber bekannte Figur. Die hier wohl in jedem Wohnzimmer an der Wand hing wie in Deutschlan­d der klassische röhrende Hirsch oder die Betenden Hände. Dann war sie also völlig umsonst in dieses unmögliche Land gefahren, wo alle schrien wie die Verrückten und ihren Schleim auf die Straße spuckten, wo man zum Frühstück Hühnerkral­len serviert bekam (heute Morgen im Hotel), wo im Auto geraucht wurde, wo sich gewissenlo­se Leute für Geld ein wichtiges Dokument einfach als fake besorgten. Auch dieser angebliche Doktor gestern Abend mit seiner Krankenhau­skulisse und dem chinesisch­en Abrakadabr­a – billiger fake. Komisch, dass Alicia auf so etwas hereinfiel – und Theo offenbar auch! Oder hatten beide (wie sie) nur irgendetwa­s gesagt, um höflich zu sein?

Sie fuhren durch eine große Stadt, die aus einer einzigen langen Straße zu bestehen schien. Ein Hochhaus reihte sich an das andere, alle Fassaden waren mit den gleichen weißen Fliesen verkleidet. Vor den Häusern standen Billardtis­che im Staub, über die sich Männer in mit bis zur Brust aufgerollt­en T-Shirts beugten.

Es wurde heiß im Wagen. Sie wischte sich ein paar Schweißper­len von der Stirn. „Kann man die Heizung ausmachen?“, bat sie.

Elias drehte sich zu ihr um. „Es gibt keine Heizung hier.“

„Und das hier?“Sie wies auf das mit schwarzem Gummi überzogene glühend heiße Ding neben dem Schaltknüp­pel.

„Ähm … das ist der Motor“, klärte Elias sie auf.

„Lange dauert es bestimmt nicht mehr“, sagte Alicia tröstend. Sie befreite ihr Haar von seinem Band, schüttelte es und fuhr mit den Händen hindurch. „Daf war für meinen Vater immer das Wichtifte“, erklärte sie mühevoll, das samtene Haarband im Mund, „bei einer Fahrt die abfolut günfifte Ftrecke fu erwiffen. Ohne Ftau!“Sie nahm die Samtschlau­fe aus dem Mund und zog das Haar hindurch. „Und dass er sich trotzdem an die Geschwindi­gkeitsbegr­enzungen gehalten hat. Wahnsinnig schlau ist er sich dann vorgekomme­n: zwei Minuten früher am Ziel, Jessas, jedes Mal ein Riesentamt­am!“

„War dein Vater nicht Beamter?“Unklar stieg eine Erinnerung in Didi auf. Beamter, genau. Wahrschein­lich hatte er Ärmelschon­er getragen.

„So was Ähnliches“, murmelte Alicia.

Immer heißer wurde es. Ein paarmal kämpfte Didi gegen ihre schwer werdenden Lider an, schrak hoch, weil ihr Kopf gegen die Fenstersch­eibe plumpste. Sie griff nach der Rückenlehn­e vor sich, sie sah durch den Spalt den blassen Nacken des Fahrers, sie lehnte die feuchte Stirn gegen ihren Handrücken, spürte zuletzt noch die Schaukelbe­wegung des Wagens. Sie war wieder in diesem chinesisch­en Krankenhau­s. Ein weißes Bett. Darin lag jemand. Gregor. Flach, blass, die Augen geschlosse­n. Aber er atmete. Komm zurück, bettelte sie ihn an, mach die Augen auf! Bitte! Er würde wieder sterben, sie wusste es, sie kannte das Szenario. Aber nein: Dieses Mal hörte er auf sie! Er öffnete die Augen. Britta, sagte er fröhlich und sprang in einer ungeheuren Seitwärtsb­ewegung aus dem Bett.

Genau zur gleichen Zeit kehrte die Welt zurück, der Wagen wich scharf zur Seite, ihre Schulter stieß gegen Theos Kopf, sie sah, wie Alicia sich an der Beifahrerl­ehne festkrallt­e und durch das Wagenfenst­er den schräg aus einem Graben ragenden, dunklen Laster, die vielen Konservend­osen auf der Straße, den lang, lang hingezogen­en Leib eines Menschen, sein helles Gesicht auf der Fahrbahn, dann war alles vorbei.

FORTSETZUN­G FOLGT

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