1 „In so einem Fall gibt es nur Verlierer“
Bei der Hotline im Bistum Münster melden sich vermehrt Missbrauchsopfer
Der große Augen blicken von den Türmen des St.-Paulus-Doms auf das Bischöfliche Generalvikariat, den Verwaltungssitz des Bistums Münster. Die acht Meter großen Banner sind eine Kunstinstallation von Pascale Feitner. Was sollen die Augen bedeuten? Vielleicht: Gott sieht alles?
In einem Büro unten im Gebäude, ganz am Ende des Flurs mit dem Bild von Papst Franziskus, sitzen Bernadette Böcker-Kock (54) und Bardo Schaffner (68). Sie sind die Ansprechpersonen für Fälle von sexuellem Missbrauch im Bistum Münster. Seit 2016 sprechen sie mit Opfern, Tätern und Zeugen – und sie hören: Gott sieht vielleicht alles, aber seine Kirche hielt sich jahrzehntelang die Augen zu.
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FRAGE: Wer von einem sexuellen Missbrauch durch Kirchenmitarbeiter weiß, soll sich bei den „Ansprechpersonen“melden, also bei Ihnen. Das Bistum Münster hat zwei Handynummern dafür freigeschaltet und im Internet ver)ffentlicht. Wenn ich die *etzt w+hle, ,lingelt es dann bei IhnenBÖCKER-KOCK: Ja, die Telefone sind an. Zum Beispiel rief vorhin, als ich hier hingefahren bin, eine Pastoralreferentin an, die einen Missbrauch melden wollte. Wir haben uns verabredet, heute Nachmittag den Fall in Ruhe zu besprechen.
FRAGE: Bei der .orstellung der Missbrauchsstudie /nde 0eptember haben 0ie eine erste Bilanz ver)ffentlicht. Demnach gab es bei Ihnen 1234 bislang 35 Missbrauchs-Meldungen. . . BÖCKER-KOCK: ...esistmehr geworden seitdem. Ich habe in den letzten zwei Wochen vier, fünf Meldungen gehabt. Wobei das keine aktuellen Fälle sein müssen, die liegen zum Teil weit zurück. Ich hatte jetzt eine Melderin, die ist 77 Jahre alt. Der Missbrauch hat sich in den 50er Jahren ereignet. Aber sie sagt, ich möchte das jetzt loswerden, ich muss das jetzt erzählen. SCHAFFNER: Das kommt jetzt alles wieder hoch durch die öffentliche Diskussion um die Missbrauchsstudie. Den Anrufern geht es zumeist nicht um Schadenersatz oder so, oft wollen sie Informationen. Ein Mann sagte zum Beispiel, ich weiß gar nicht, was ist aus diesem Täter geworden, lebt der noch, gibt es noch andere Opfer?
FRAGE: Konnten 0ie dem Mann Antworten gebenSCHAFFNER: Wir konnten mit Hilfe des Bistums ermitteln, dass das ein Priester war, der mehrfach auffällig geworden war und dem auch ein Strafprozess gemacht wurde. Der war auch im Gefängnis, ist dann aber nach Südamerika ausgewichen und hat dort ausgerechnet ein Kinderheim aufgemacht, mithilfe einer Stiftung aus Norddeutschland. Das arbeiten wir auf. FRAGE: 6ebt der 7riester nochSCHAFFNER: Nein, der ist tot. BÖCKER-KOCK: Es rufen aber auch ganz aktuell Priester an oder Kindergärtnerinnen, die sagen, wir haben hier ein Problem, was sollen wir machen. FRAGE:8nd was raten 0ie denen dannBÖCKER-KOCK: Das kommt natürlich immer auf den Einzelfall an. Wenn aber zum Beispiel der Vorwurf kommt, dass eine Erzieherin einen sexuellen Übergriff auf ein Kind ausgeübt haben soll, dann geht es um Fragen wie: Wen müssen wir benachrichtigen? Müssen wir das Jugendamt einschalten? Die Polizei? FRAGE: Ist es Ihre Hauptaufgabe, einzuschreiten bei 9efahr und weiteren Missbrauch zu verhindern : oder sollen 0ie vor allem früheren ;pfern Halt bietenBÖCKER-KOCK: Die erste Aufgabe ist es, die Leute überhaupt so weit zu bringen, uns etwas zu erzählen. Vor Kurzem rief mich ein Mann an, der wollte einen Übergriff melden, und als ich dann fragte, was ist genau wann und wo passiert, sagte er, nein, wissen Sie was, das wird mir jetzt alles zu intim, ich rufe Herrn Schaffner an. FRAGE: 0ie waren als <rau die falsche Ansprechpartnerin für ihn
SCHAFFNER: Das passiert mir auch umgekehrt. BÖCKER-KOCK: Zuerst müssen wir also Vertrauen schaffen. Zweitens geht es darum, die Meldung so zu strukturieren, dass man sie nachvollziehen kann. Und dann gucken wir, was muss aktuell gemacht werden.
FRAGE: 9runds+tzlich gilt die =egel, so steht es auf der Homepage des Bistums> Wir glauben *edem ;pfer. BÖCKER-KOCK: Wir unterstellen erst einmal, dass das, was die Menschen uns vortragen, richtig ist. Wir haben nur die Aufgabe zu prüfen, ob sich das auch so ereignet haben kann. Wenn also jemand zum Beispiel sagt, er sei durch Täter X in den 80er Jahren missbraucht worden, und wir stellen fest, X war in den 80er Jahren gar nicht in Deutschland, dann kann da etwas nicht stimmen.
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„Ich habe noch nie ein Interview gegeben“, hatte Bernadette Böcker-Kock zu Beginn des Gesprächs gesagt. Sie wohnt in Coesfeld, ist Mutter von zwei Kindern, katholisch, von Beruf Rechtsanwältin. Ihr Fachgebiet ist das Familienrecht. Ahnte sie, worauf sie sich einließ, als sie die Aufgabe als Ansprechperson annahm? „Nein“, sagt sie.
Bardo Schaffner stammt aus Hessen, aber er lebt seit 40 Jahren in Münster. Er ist Pädagoge, studierte außerdem Psychologie und Soziologie. Auch Schaffner ist katholisch. Aber beide Ansprechpersonen legen Wert auf die Feststellung, dass sie keine Kirchenmitarbeiter seien. „Wir sind unabhängig, das ist ein großer Vorteil“, sagt Schaffner.
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FRAGE: 0ie sind ,eine Mitarbeiter der Kirche, aber 0ie arbeiten im Auftrag des Bistums und handeln nach den „6eitlinien für den 8mgang mit sexuellem Missbrauch Minder*+hriger“der Bischofs,onferenz. Darin steht zum Beispiel, dass 0ie das Bistum informieren und dass die Kirche die 0trafverfolgungsbeh)rden einschaltet. 9ab es <+lle, in denen 0ie selbst die 0taatsanwaltschaft anrufen wolltenSCHAFFNER: Ich hatte einmal so einen Fall, aber da war das Bistum schneller als ich. Die hatten den Vorfall bereits mitbekommen und sofort die Staatsanwaltschaft eingeschaltet.
FRAGE: ?rauen die Anrufer der Kirche zu, dass die gemeldeten .orf+lle ehrlich aufge,l+rt werden
SCHAFFNER: Bei mir rief jetzt ein Mann an, der hatte vor 10, 15 Jahren einen Priester angezeigt wegen eines Missbrauchs. Der Priester war damals beurlaubt worden, es gab eine Ermittlung der Staatsanwaltschaft und eine kirchliche Ermittlung, aber es konnte nichts festgestellt werden, man fand keine Opfer. Der Priester wurde dann rehabilitiert. Und dieser Mann rief jetzt noch mal an, ausgelöst durch die öffentliche Diskussion über die Missbrauchsstudie, und sagte: Die haben das damals vertuscht! Ich fordere, dass das alles noch einmal nachvollzogen wird!
FRAGE: Kommen 0ie seiner <orderung nachSCHAFFNER: Er hat einen Namen genannt von einem Priester, der angeblich wüsste, wer die Opfer waren. Ich habe diesen Priester jetzt noch nicht erreicht, er ist im Urlaub. Aber ich werde dem nachgehen. Ich werde ihn fragen, ob das wirklich so ist. FRAGE: In vielen <+llen ,ann ,eine 0trafverfolgung mehr stattfinden, weil die ?aten ver*+hrt sind . . . BÖCKER-KOCK: ...ja,aberim kirchenrechtlichen Sinne gibt es keine Verjährung. Egal ob der Priester noch lebt oder nicht oder wie lange der Fall her ist, das wird bearbeitet. FRAGE: Wir sprachen hier über ?aten, die 3@, 52 oder A2 Bahre zurüc,liegen, aber unter denen die ;pfer immer noch leiden. Halten 0ie die .er*+hrungsfristen im 0trafrecht für ein 7roblemBÖCKER-KOCK: Prinzipiell glaube ich, dass man den Opfern insofern entgegenkommen muss, dass man sagt: Die brauchen einfach eine gewisse Zeit, bis sie das melden. Deshalb glaube ich, dass die Fristen tatsächlich länger sein müssten. Auf der anderen Seite ist das für mich in meiner Funktion nicht ausschlaggebend, weil die Kirche keine Verjährung kennt.
FRAGE: Aber gerade der Kirche wird doch vorgeworfen, gegen ?+ter nicht ,onseCuent genug vorgegangen zu sein, sie sogar geschützt und ihre ?aten vertuscht zu habenD BÖCKER-KOCK: Wenn man sich die Altfälle anguckt, dann sieht man, dass da früher wirklich viel unter der Hand gelaufen ist. Das macht mich auch betroffen. Aber man merkt, dass da ein Wandel stattgefunden hat. SCHAFFNER: Die Verantwortlichen
3677 Opfer, 1670 Beschuldigte: Die Ergebnisse der Missbrauchsstudie der Katholischen Kirche sind erschütternd – und die Dunkelziffer dürfte noch sehr viel höher sein. Bernadette BöckerKock und Bardo Schaffner sind die Ansprechpersonen für Fälle von sexuellem Missbrauch im Bistum Münster. Was erleben sie?
nehmen das sehr ernst. Strafbare Handlungen werden sofort angezeigt. BÖCKER-KOCK: Es gibt aber auch rechtliche Grenzen, nicht nur die Verjährungsfristen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass zum Beispiel das Arbeitsrecht die Täter schützt. SCHAFFNER: Ich hatte den Fall, dass ein Pfarrer einen völlig unangemessenen Whatsapp-Kontakt hatte zu einem Jugendlichen. Der hat dem über eineinhalb Jahre, wenn man das ausgedruckt hat, 3000 Din-A4-Seiten Whatsapp-Nachrichten geschickt. Der Junge hat darunter gelitten, das war eine ganz subtile Form von Abhängig machen. Der Pfarrer hat sich dann vom Dienst beurlauben lassen, ist aber im Pfarrhaus wohnen geblieben. Das Bistum versucht, ihn da rauszubekommen. Aber Sie glauben gar nicht, wie schwer das rechtlich ist! Was es da für Fristen gibt! Der Weihbischof spricht jetzt noch einmal mit dem Jungen, um ihm das zu erklären. Der Junge wohnt da ja ganz in der Nähe. Und er sieht sich massivem Druck ausgesetzt, auch von Leuten aus der Gemeinde, die sagen: Du hast unseren Pfarrer ruiniert!
FRAGE:Wie bitteSCHAFFNER: In der Wissenschaft spricht man von „irritierten Systemen“. Das kann man in dieser Gemeinde sehr gut sehen. Der Pfarrgemeinderat ist gespalten, der Kirchenvorstand ist gespalten, und die Gemeinde ist gespalten. Da ist ein großer Schaden entstanden durch die Nachrichten, die der Pfarrer verschickt hat – aber die Spaltung ist auch ein großer Schaden.
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Eine Melodie ertönt, in Schaffners Jackentasche klingelt ein Telefon: das Missbrauchshandy. „Es läutet sehr viel öfter jetzt“, sagt er anschließend. „Ich hatte nach der Veröffentlichung der Studie bestimmt ein oder zwei Anrufe täglich.“Ist das ein Zeichen dafür, dass das Schweigen über den Missbrauch endlich aufbricht?
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FRAGE: In der Missbrauchsstudie ist die =ede von „Kleri,alismus“als „hierarchischautorit+res 0ystem“, das Missbrauchstaten und vor allem das 0chweigen darüber erleichtern ,)nne. 6+sst sich damit die =ea,tion in der genannten 9emeinde er,l+renSCHAFFNER: Vor ein paar Jahren hatten wir einen Fall hier an einer katholischen Schule, auch mit Whatsapp. Da hatte ein Lehrer mit zwei Schülerinnen, die im Abiturjahrgang waren, völlig unangemessene Kommunikation, auch dienstrechtlich äußerst problematisch. Diese Mädchen haben dann die Schulsozialarbeiterin kontaktiert, die wiederum uns kontaktiert hat – die Mädchen haben aber darauf bestanden, dass die Information nicht genutzt werden darf. So ein Lehrer kann nicht an der Schule bleiben. Aber die Mädchen hatten Angst, der Lehrer sollte sie eigentlich prüfen. BÖCKER-KOCK: Wenn wir uns konsequent an den Opfern orientieren wollen, dann heißt das natürlich auch, dass wir uns daran halten, wenn sie um Verschwiegenheit bitten.
SCHAFFNER: Im Kollegium dieser Schule kam es dann auch zu einer tiefen Spaltung. Nicht zuletzt, weil viele Informationen nicht weitergegeben werden durften.
FRAGE: Was macht diese Arbeit mit Ihnen- 0ind 0ie erschüttert
SCHAFFNER: Ich habe viele Jahre Telefonseelsorge gemacht, ich habe in einer Beratungsstelle gearbeitet. Ich wusste, dass es so etwas gibt. Aber wenn mir jemand, der über 70 ist, sagt, mit 12 bin ich missbraucht worden, und das hat mein ganzes Leben zerstört, das geht mir schon nah. Und was für mich neu war, ist zu sehen, was eine solche Tat auslöst innerhalb der Gemeinden.
FRAGE: 0ie meinen diese 0paltung
SCHAFFNER: Ja, das habe ich durch diese Fälle hautnah erlebt. Das hat etwas Tragisches, weil es nur Verlierer gibt in so einem Fall. BÖCKER-KOCK: Was mich am meisten belastet, sind die aktuellen Fälle. Weil ich mich da immer frage: Habe ich richtig reagiert? Hätte ich anders reagieren müssen? Ist noch mehr Eile geboten? Ich finde es schwer, diese Verantwortung zu tragen.