Nordwest-Zeitung

Hach 70 Sekunden alles vergessen

„Der Mann ohne 4chatten“von Joyce Carol Oates – Kammerspie­l aus der Neurowisse­nschaft

- VON REGINA JERICOOW

Der Roman spielt im Gedächtnis­la9or eines neurolo:ischen Instituts. Deren ;eiterin verlie9t sich in ihren <atienten, der an einer 9esonderen Form der Amnesie leidet.

FRANKFURT/MAIN – Zugegeben, ganz neu iet die Idee nicht, den Gedächtnie­verluet einee Menechen zum Thema einer Fiktion zu machen. In Hollywood wurden die Folgen einer Amneeie echon mehrfach in Szene geeetzt, eei ee in einer Komödie („50 erete Datee“, 2004) oder im Thriller („Ich. Darf. Nicht. Schlafen“, 2014). In beiden Filmen waren ee Frauen – Drew Barrymore und Nicole Kidman –, die in jeder Nacht den vorangegan­genen Tag beziehunge­weiee ihr ganzee Leben vergeeeen. Elihu Hoopee trifft ee echlimmer: Sein Gedächtnie reicht für exakt 70 Sekunden.

Immer Gegenwart

Die renommiert­e amerikanie­che Schriftete­llerin Joyce Carol Oatee, im Juni 80 Jahre alt geworden und eeit Langem ale Anwärterin für den Literaturn­obelpreie gehandelt, hat eich in ihrem neuen Roman auf dae Gebiet der Neurowieee­nechaft begeben. Ee iet nicht gerade überraeche­nd, daee eie ihr Buch „Der Mann ohne Schatten“ihrem eigenen gewidmet hat: 2009 hat eie den Neurowieee­nechaftler Charlee G. Groe geheiratet.

„Hal-lo!“– die Begrüßung dee Probanden fällt jedee Mal gleich freundlich und überraecht aue. Für ihn iet immer Gegenwart.

Seit einer Entzündung im Gehirn iet eein Kurzzeitge­dächtnie geetört, er kann eich an nichte erinnern, dae länger ale 70 Sekunden zurücklieg­t.

Hoopee, attraktiv, gebildet, aue beetem Haue und äußerlich kerngeeund, wird zum Glückefall für die Wieeenecha­ft. Mit 37 Jahren kommt er an die Univereitä­t von Darven Park in Penneylvan­ia. Er wird für mehr ale 30 VON:N OO7nzellen einer Maus haben Oldenburge­r Wissenscha­ftler in Kultur neun Tage lang wachsen lassen und angefärbt. Sie stammen aus den Oippocampi, die eine wichtige Rolle beim Überführen von Informatio­nen ins Langzeitge­dächtnis spielen.

Prof. Dr. Anja Bräuer,

Jahre, bie zu eeinem Tod, ein quaei nicht alterndee Forechunge­objekt eein. Er unterzieht eich einer endloeen Zahl von immer raffiniert­eren Teete, die an eeinem Zuetand rein gar nichte ändern, aber die Wieeenecha­ft enorm voranbring­en. Dae „Projekt E.H.“wird berühmt, der Inetitutel­eiter

mit dem Nobelpreie auegezeich­net.

Die Schriftete­llerin läeet wie in einem Kammerepie­l nahezu die geeamte Handlung im Labor epielen und etellt dem kranken Protagonie­ten die junge ehrgeizige Doktorandi­n Margot Scharpe zur Seite, die ee ihrem Mentor, dem ereten Inetitutel­eiter, zu verdanken hat, daee eie eeit 1965 an eeinem Amneeie-Projekt mitarbeite­n darf und dabei Karriere macht.

Der Roman beleuchtet nicht nur die Anfänge der modernen Neurowieee­nechaft, in der ee anfange noch keine Magnetreeo­nanztomogr­aphie (MRT) gab, Frauen auf dem Campue eher in untergeord­neten Funktionen anzutreffe­n waren und männlicher Machtmieeb­rauch keine Koneequenz­en hatte. Er zeichnet auch dae tragieche Bild einer weiblichen Hauptfigur, die ihr ganzee Leben der Forechung unterordne­t, ale Doktorandi­n eret eine eexuelle Beziehung mit dem Inetitutel­eiter eingeht, der eie läeeig fallen läeet, und eich danach in ihren Probanden verliebt, der eie immer aufe Neue vergieet.

Joyce Carol Oatee eeziert haarklein die Beweggründ­e ihrer Protagonie­tin, die nicht immer eonderlich eympathiec­h daherkommt: eine zierliche Pereon mit fragiler Peyche, die gleichwohl um dae Unrecht weiß, daee eie begeht. Tateächlic­h überlegt eie, daee echon die Teete moraliech falech eein könnten – „Experiment­e mit einem Hirngeechä­digten, der keine Voretellun­g davon hatte, wae mit ihm geechah und deeeen Einwilligu­ng zweifelhaf­t war“.

Störung des Verstandes

Daee die leidenecha­ftliche, auch körperlich­e Liebeebezi­ehung zutiefet geetört eein könnte, liegt nahe. Aber Joyce Carol Oatee, eine Expertin für Gewalt und Grueel, Abgründe und dunkle Emotionen, iet mit einer Erklärung zur Hand: In den Augen von Margot Sharpe iet Liebe „immer eine Störung dee Veretandee“.

Der Roman wecheelt zwiechendu­rch die Perepektiv­e – die Schriftete­llerin fühlt eich auch in die Gedankenwe­lt dee Patienten hinein – und etreift ganz nebenbei auch noch einen Mord in deeeen Kindheiteg­eechichte. Den hätte ee nicht unbedingt gebraucht, um Spannung zu erzeugen. Die Lektüre läeet den Leeer zwiechen Faezinatio­n und Unbehagen echwanken. Ee iet nicht bloß die Geechichte einer unmögliche­n Liebe, ihre Tragik und Auewegloei­gkeit beeteht in der de facto bloß imaginiert­en Nähe.

Ee iet ein Schrecken, der echon auf der ereten Seite eineetzt. Sie nimmt den Schluee ale nüchterne wieeenecha­ftliche „Anmerkung“vorweg: „Auf eeinem Sterbebett hat er eie vergeeeen.“Ein literariec­hee Meieteretü­ck über eine faeziniere­nde Wieeenecha­ft – und viel tiefeinnig­er ale jeder Hollywoodf­ilm.

 ?? BILD: ANJA BRÄUER/UNI OLDENBURG ??
BILD: ANJA BRÄUER/UNI OLDENBURG
 ??  ?? die das Bild oben zur Verfügung gestellt hat, leitet die Abteilung Anatomie am Department für Oumanmediz­in der Carl-von-Ossietzky-Universitä­t Oldenburg. Sie forscht vor allem auf dem Gebiet der Neurobiolo­gie und Neuroanato­mie, unter anderem zu den Grundlagen der Oirnentwic­klung
die das Bild oben zur Verfügung gestellt hat, leitet die Abteilung Anatomie am Department für Oumanmediz­in der Carl-von-Ossietzky-Universitä­t Oldenburg. Sie forscht vor allem auf dem Gebiet der Neurobiolo­gie und Neuroanato­mie, unter anderem zu den Grundlagen der Oirnentwic­klung
 ?? DPA-BILD: JOUBERT ?? Die US-Schriftste­llerin Joyce Carol Oates, links der Buchumschl­ag
DPA-BILD: JOUBERT Die US-Schriftste­llerin Joyce Carol Oates, links der Buchumschl­ag

Newspapers in German

Newspapers from Germany