„as am „Schicksalstag der Deutschen“geschah
9. November steht für Geburt der Demokratie, Pogrome gegen Juden und DDR-Volksaufstand
Vor 80 Jahren kam es zur Pogromnacht. Gedenkveranstaltungen gab es dazu in einer Synagoge und im Reichstag.
;ON ANDREAS HERHOLZ, BÜRO BERLIN
BERLIN – Am Ende erheben sich die Abgeordneten von ihren Plätzen, applaudiert der Bundestag für das leidenschaftliche Plädoyer des Bundespräsidenten für die Demokratie, einen aufgeklärten Patriotismus und den entschlossenen Kampf gegen einen „neuen aggressiven Nationalismus“. Erinnerung an einen deutschen Schicksalstag, den 9. November, der in der deutschen Geschichte für Licht und Schatten steht.
„Es lebe die deutsche Republik!“, ruft zu Beginn der Gedenkveranstaltung der Schauspieler Ulrich Matthes vom Rednerpult aus ins Plenum unter der Reichstagskuppel, spricht an diesem Morgen die Worte, mit denen der Sozialdemokrat Philipp BERLIN – DiN eH November wird als „Schicksalstag der Deutschen“bezeichnet, markiert er doch mehrfach Wendepunkte in der deutschen Geschichte. Den 9. November statt des 3. Oktobers als Nationalfeiertag zu begehen, ist aus Sicht des Historikers Heinrich August Winkler jedoch unrealistisch: „Die Widersprüche der Empfindungen auszuhalten, die mit dem Datum des 9. Novembers verbunden sind, ist notwendig. Die Widersprüche zu feiern ist unmöglich“, schrieb Winkler vor einigen Jahren in der „Zeit“.
Angesichts des 80. Jahrestags der NS-Pogrome gegen die Juden und des 100. Jahrestages der Ausrufung der ersten deutschen Republik galt es in diesem Jahr in besonderem Maße, bei den zentralen Gedenkfeiern einen Bogen zu schlagen.
■ 1918
Der 9. November vor 100 Jahren steht für die Geburt der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik. An Scheidemann auf den Tag genau vor hundert Jahren vom Fenster des Parlamentsgebäudes nur ein paar Schritte vom Saal entfernt, die Republik ausgerufen und das Ende der Monarchie besiegelt hat.
„Es lebe die deutsche Republik“, sagt auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Beginn der Feierstunde für die Demokratie im hohen Haus zum Gedenken an einen „Schicksalstag“und eine tiefgreifende Zäsur in der deutschen Geschichte.
Da ist die Novemberrevolution als „Meilenstein“der Demokratiegeschichte am 9. November 1918, da ist auch die Reichspogromnacht 1938 mit brennenden Synagogen als sichtbarer Beginn der Judenverfolgung in Deutschland und Europa und schließlich der 9. November 1989 mit dem Fall der Mauer, der „glücklichste 9. November in unserer Geschichte“, so Steinmeier.
Aufbruch in die Demokratie, aber auch Absturz in die Barbarei des Holocaust, helle und dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. Oben diesem Tag übergab der letzte Reichskanzler des Kaiserreichs, Max von Baden, sein Amt eigenmächtig an den Sozialdemokraten Friedrich Ebert, der Vorsitzender der stärksten Partei im Reichstag war. Dessen Parteifreund Philipp Scheidemann rief am selben Tag unter dem Eindruck von Massendemonstrationen vom Reichstagsgebäude in Berlin aus die Republik aus. Zugleich proklamierte der Führer der linksradikalen Spartakusgruppe, Karl Liebknecht, die „freie sozialistische Republik Deutschland“. Schließlich setzten sich die Anhänger des parlamentarischen Systems durch. In der Weimarer Republik nutzen vor allem die Gegner des parlamentarischen Systems das Datum des 9. Novembers, um die Folgen des Umsturzes zu diskreditieren.
■ 1923
Der Hitler-Ludendorff-Putsch fünf Jahre später hat einen historischen Rückbezug auf die sogenannte Novemberrevolution von 1918. Eine „Vaterländische Kundgebung“im auf der Besuchertribüne verfolgen seine Amtsvorgänger Horst Köhler, Christian Wulff und Joachim Gauck die Rede.
Zwar sei der 9. November auf der Landkarte der deutschen Erinnerungsgeschichte verzeichnet, so Steinmeier, doch habe er nie den Platz erhalten, der ihm zustehe. Er sei ein ambivalenter Tag, weil er für „Licht und Schatten steht“und „ein Stiefkind unserer Demokratiegeschichte“sei.
Für Steinmeier ist der 9. November 1918 ein Grund zum Feiern, „ohne den Abgrund des Nationalsozialismus zu vergessen“. Das Staatsoberhaupt wirbt für „einen demokratischen, aufgeklärten Patriotismus“, einen „mit leisen Tönen und gemischten Gefühlen“statt mit lauten Parolen. „Wir können stolz sein auf die Traditionen von Freiheit und Demokratie, ohne den Blick auf den Abgrund der Shoa zu verdrängen“, so der Bundespräsident.
Die Revolution von 1918 markiere eine tiefgreifende Zäsur in der deutschen Geschichte, für einen Aufbruch in die Moderne, so der Präsident. Münchner Bürgerbräukeller nahm Adolf Hitler als Ausgangspunkt, um die „Regierung der Novemberverbrecher“für abgesetzt zu erklären. Der „Marsch auf Berlin“wurde jedoch bereits vor der Feldherrnhalle niedergeschlagen. Die Rädelsführer wurden verhaftet, die NSDAP als Partei verboten. Mit alljährlichen Erinnerungsfeiern avancierte der Putschversuch nach 1933 zu einem Bezugspunkt nationalsozialistischer Mythenbildung.
■ 1938
Mit den November-Pogromen vor 80 Jahren gingen die Nationalsozialisten zu offener Gewalt gegen die jüdische Minderheit über. Höhepunkt war die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. Es brannten unzählige Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden verwüstet und jüdische Bürger misshandelt und getötet. Drei Jahre vor Beginn der systematischen Massendeportationen und nach zahlreichen rechtlichen Diskriminierungen erhielt die Verfolgung der Schließlich stehe sie für den Durchbruch der deutschen Demokratiegeschichte, für Errungenschaften wie die republikanische Verfassung, den Beginn der parlamentarischen Demokratie und nicht zuletzt die Einführung des Frauenwahlrechts.
Zwar habe das Ende der Weimarer Republik in das furchtbarste Kapitel der deutschen Geschichte geführt. „Doch gescheitert ist nicht die Demokratie, gescheitert sind ihre Feinde“, stellt Steinmeier klar und erhält Beifall vom ganzen Haus.
Kaum eine Hand rührt sich in Reihen der AfD-Abgeordneten, als Steinmeier deutlich wird und Klartext spricht: „Wer heute Menschenrechte und Demokratie verächtlich macht, wer alten nationalistischen Hass wieder anfacht, hat gewiss kein historisches Recht auf Schwarz-Rot-Gold“, sagt Steinmeier. „Wir dürfen nicht zulassen, dass einige wieder von sich behaupten, allein für das ,wahre Volk‘ zu sprechen, und andere auszugrenzen“, warnt der Bundespräsident. Juden mit den Ausschreitungen einen neuen Charakter. Als Vorwand für die Übergriffe diente den Nationalsozialisten das Attentat des 17-jährigen Juden Herschel Feibel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath am 7. November 1938 in Paris. Propagandaminister Joseph Goebbels gab bei einem Treffen von Parteiführern in München das Signal für Gewaltaktionen in ganz Deutschland und Österreich.
In der Öffentlichkeit versuchte die NS-Führung, die Übergriffe als „spontanen Ausbruch des Volkszorns“erscheinen zu lassen. Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass während und infolge der Gewalt mehr als 1300 Menschen getötet und mindestens 1400 Synagogen stark beschädigt oder zerstört wurden.
■ 1989
Demonstrationen mit wachsendem Zulauf und eine anhaltende Ausreisewelle mit dem Umweg über ostdeutsche Nachbarländer hatten die DDR-Regierung seit dem
Gedenken an diesem 9. November auch an die Opfer des Nationalsozialismus – „Wir wissen um unsere Verantwortung, die keinen Schlussstrich kennt!“, stellt das Staatsoberhaupt klar. Auch heute müsse die Frage gestellt werden, wie aus einem demokratischen Aufbruch der Weg in die Diktatur, in Richtung Krieg und Vernichtung führen konnte, mahnt das Staatsoberhaupt.
Gedenken an diesem Tag auch in der jüdischen Synagoge Rykestraße in Berlin Prenzlauer Berg, die wie andere Synagogen, und jüdische Geschäfte auch in der Pogromnacht vom 9. Auf den 10. November vor 80 Jahren in Brand gesteckt worden, Schauplatz von Gewalt und Verfolgung war. Ausdrücklich nicht eingeladen sind Vertreter der AfD. Der Zentralrat der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sieht in ihnen „geistige Brandstifter“, die vor nichts Respekt hätten und verurteilt ihre Hetze gegen Juden, Muslime und Flüchtlinge, die eine „Schande“für Deutschland seien. Sommer 1989 unter Druck gesetzt. Am 9. November 1989 teilte der Sprecher des SEDZentralkomitees, Günter Schabowski, auf einer internationalen Pressekonferenz in Ost-Berlin mit, dass der Ministerrat auf Beschluss des Politbüros eine Reiseregelung beschlossen habe, die eine kurzfristige Erteilung von Visa ohne Voraussetzungen vorsieht.
Noch am selben Abend strömten Tausende in OstBerlin zu den Grenzübergängen. Kurz vor Mitternacht gaben die Grenzbehörden dem Druck nach und ließen die Menschen in beide Richtungen unbehelligt passieren. Damit war die Grenze gefallen, die 28 Jahre lang die beiden deutschen Staaten getrennt hatte. Allein an der Berliner Mauer waren mindestens 140 Menschen durch das DDR-Grenzregime ums Leben gekommen.
Ein knappes Jahr später, am 3. Oktober 1990, wird der Beitritt der ostdeutschen Bundesländer in die Bundesrepublik Deutschland vollzogen, das Land ist wieder vereint.
Interview mit Prof. Heinrich August Winkler. Der Historiker an der :reien Universit<t Berlin spricht über die Bedeutung des 9. November.
;ON ANDREAS HERHOLZ, BÜRO BERLIN
FRAGE: Zer 9. November ist der Schicksalstag in der deutschen Geschichte. Vor 100 Jahren rief Philipp Scheidemann die Republik aus. Worin liegt die Bedeutung dieses Tages? WINKLER: Das deutsche Kaiserreich hat sich quasi fünf Minuten vor Zwölf von einer konstitutionellen in eine parlamentarische Demokratie verwandelt. Dies geschah, um einen milderen Frieden zu erlangen. Nicht zuletzt, um den amerikanischen Präsidenten Wilson zu beeindrucken, wurde die parlamentarische Verantwortlichkeit des Reichskanzlers durch Verfassungsreform im Oktober 1918 eingeführt. Ein erheblicher Teil der alten, vor allem der militärischen Eliten, haben diesen Verfassungswandel bewusst sabotiert. Der Versuch der Marineführung, die Hochseeflotte gegen England auslaufen zu lassen, kam einem Putsch gegen die Regierung des Prinzen Max von Baden gleich. Dagegen haben sich erst Matrosen und dann Arbeiter aufgelehnt.
FRAGE: Der Beginn der Novemberrevolution… WINKLER: Die Ausrufung der Republik durch Scheidemann am 9. November 1918 war eine Konsequenz dieser Auflehnung. Es ging damals in erster Linie um mehr Demokratie. Deutschland kannte auf Reichsebene ein allgemeines, gleiches Wahlrecht für Männer seit 1871 und damit zu einem viel früheren Zeitpunkt als liberale Mustermonarchien wie Großbritannien oder Belgien. Es ging um die Einführung des Frauenwahlrechts und die Demokratisierung des Wahlrechts auch in den Ländern. Preußen hatte noch ein undemokratisches Drei-Klassen-Wahlrecht. FRAGE: Am 11. November 1918 endete der Erste Weltkrieg. Im Jahr darauf wurde der Friedensvertrag von Versailles geschlossen, den viele als eine der 0auptursachen f1r den Weg in den 2weiten Weltkrieg sehen...
WINKLER: Es war im Zweiten Weltkrieg, als Charles de Gaulle im Londoner Exil und Winston Churchill vom zweiten Dreißigjährigen Krieg sprachen, der 1914 begonnen habe und noch andauere. Aus ihrer Sicht hatte das deutsche Streben nach Hegemonie diesen Krieg in Europa ausgelöst. Daran ist einiges richtig. Hitler ist aber nicht zwangsläufig an die Macht gekommen. Die Machtübertragung 1933 war vermeidbar. Dafür trugen in letzter Instanz die alten Eliten um Reichspräsident von Hindenburg die Verantwortung. Sie brachten Hitler zu einem Zeitpunkt an die Macht, als die Nationalsozialisten ihre erste große Wahlniederlage am 6. November 1932 erlitten hatten.