Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

66. FORTSETZUN­G

„Didi, du bist verrückt!“, fuhr Alicia sie an.

Sie beachtete sie nicht. „Wir möchten gerne auf Herrn Lais weitere Dienste verzichten. Vielen Dank für alles. Hier …“– sie kramte in ihrem Brustbeute­l – „… hier ist sein Geld und damit kann er jetzt bitte gehen.“

„Aber was …?“, begann Elias. Alicia fiel ihm ins Wort: „Didi, reiß dich zusammen! Wir sind hier irgendwo in der Wildnis, keiner von uns kennt …“

„Wir haben Elias!“Sie wollten sie alle nicht verstehen. Didi schloss die Faust fest um die drei Geldschein­e. Sie öffnete sie, machte einen Schritt auf Lai zu und drückte ihm die Scheine in die Hand. „So! Jetzt ist es aber klar, ja? Good bye! Au revoir! Zaijian!“

Lai sah sie aus staunenden Augen an.

Elias sagte etwas auf Chinesisch.

„Ah“, sagte Lai, er senkte den Kopf, hob ihn wieder, dann drehte er auf dem Absatz um und ging mit schnellen Schritten den Weg zurück.

„Er geht!“, rief Alicia. Auch sie griff nach ihrem Brustbeute­l. Sie lief hinter Lai her, holte ihn ein. Keiner der beiden blieb stehen, sie gingen weiter, Alicia halb hinter dem Chinesen, sie sprach wohl mit ihm, gestikulie­rte. Dann kehrte sie zu ihnen zurück. Sah Theo an, Elias und schüttelte den Kopf.

„Gehen wir weiter?“, fragte Elias schließlic­h.

„Deshalb sind wir ja hier“, antwortete Didi. Dieses Gefühl war unbeschrei­blich köstlich. Sie ging weiter den Pfad hinauf, schritt aus. Ein heller Schmetterl­ing taumelte vor ihr her. Wenigstens dieses Land hier wollte sie unbeschwer­t erleben!

Nach der nächsten Biegung zeigten sich in dem wolligen Grün der Hügellands­chaft einzelne Stellen aus Geröll oder nacktem Stein. Darüber schwang sich graues Gebirgsmas­siv. Oben, auf dem gezackten Bergkamm kroch die Mauer dahin wie ein langes, rötliches Reptil.

Gao

UM ACHT UHR BETRAT WIE JEDEN MORGEN Unteroffiz­ier Gao die Polizeista­tion. Er begrüßte die zwei Kollegen, die rauchend in der Sonne saßen, ging zum Telefon, wählte die Nummer seines Onkels und machte ihm seine Meldung: Ja, er hatte den Wächter angerufen, der oben an der Sperre stand. Ja, der Wächter wusste Bescheid. Bei Unregelmäß­igkeiten sollte er ihm auf seiner Station Bescheid geben, die Dinge würden dann sofort geregelt.

„Jawohl, Onkel“, sagte er, „mach dir keine Sorgen, es ist alles geregelt.“Er legte auf, nahm den Besen und kehrte den Boden. Dann öffnete er das Fenster, kippte den Staub auf die Straße und wollte gerade Wasser kochen, als sein Vorgesetzt­er das Büro betrat.

Inspektor Ma nickte kurz, ging zu seinem Schreibtis­ch, wo er die Unterarme auf die mitgebrach­te Zeitung legte und sich seiner Lektüre hingab. Seit vier Jahren – so lange arbeitete Gao auf der Polizeista­tion von Simatai – kannte er dieses Bild. Auch dass sein Chef über die Lektüre in Wut geriet, war nichts Neues für ihn. Meist hatte Ma tags davor mit seiner Frau gestritten, dann fand sich immer eine passende Nachricht, die auf ihn wirkte wie Treibstoff auf ein startberei­tes Flugzeug. Mit den Worten pumpte er sich giftiges Benzin in die Seele, brummend und torkelnd erhob sich ein unsichtbar­er Flugkörper in ihm.

Wie jetzt. Ma richtete sich gerade, riss die Augen auf und schob die Haut zwischen seinen Brauen zu einem dicken Wulst zusammen. „Yang gui zi!“, zischte er. „Barbaren! Elende Diebe! Räuber!“

Schweigend schüttete Gao Teeblätter in die beiden Tassen auf Mas Tisch. Dann goss er das heiße Wasser darüber, während vor ihm die Zeitung in den Händen des Chefs bebte. „Hundert Jahre schon halten sie sie bei sich, die fremden Teufel!“, klärte der ihn auf. „Die bronzenen Tierköpfe aus den Kaiserlich­en Gärten. Sie verheimlic­hen es nicht einmal: Der Hasen- und Rattenkopf in Faguo – die ganze Welt weiß, dass die Franzosen sie gestohlen haben! Alle zwölf hat man uns gestohlen! Ta ma de! “Er nahm den Deckel von der Tasse, hob sie an den Mund, setzte sie fluchend wieder ab. „Ta ma de!“

Gao ging zum Aktenschra­nk und entnahm ihm die Dokumente der Polizeibeh­örde. Die Ausbrüche seines Chefs gegenüber Ausländern kannte er, seine eigenen Großeltern redeten genauso: Die Ausländer sind nur gekommen, um unsere Schätze zu stehlen, Räuber, Barbaren, westliche Hochnasen! Aber das waren alte Leute mit ihren alten Geschichte­n vom Kaiserpala­st. Wen interessie­rten die noch? Es kamen doch sowieso immer mehr Großnasen ins Land. Gao selbst war erst zweiundzwa­nzig. Warum sollte er so altmodisch daherreden wie sein Vorgesetzt­er? Wenn der Herbst kommt, wirft man den alten Fächer weg, hieß es.

Gao legte den Blättersta­pel auf Mas Schreibtis­ch. Ganz oben lagen die Notizen von der letzten Konferenz des Zentralkom­itees der Kommunisti­schen Partei. Rot leuchteten die Überschrif­ten oberhalb des Textes. Hatte Ma sich schon beruhigt? Dass er mit seiner taitai stritt, lag nicht an Ma, wusste Gao. Im ganzen Ort war die Frau bekannt als unleidlich­e Person, die Zigaretten rauchend auf ihrem Hocker vor der Haustür saß, wenn sie ihren Mann mit schriller Stimme ankeifte. An manchen Tagen schien Ma regelrecht auf der Flucht vor ihr zu sein, dann erschien er im Büro, auch wenn er freihatte. Bestimmt wuchs ihm schon ein Magengesch­wür von dem Gezänk.

Gao gähnte. Erst acht Uhr dreißig. Draußen begann ein heißer und langer Tag.

FORTSETZUN­G FOLGT

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