Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

68. FORTSETZUN­G

„Man nennt sie die Hundert-Schritte-Schlange“, sagte Elias.

„Also, war sie nun giftig?“, fragte Didi.

Elias ging schon wieder voran, schwang den Stecken.

Alicia spürte, dass ihr die Waden steif geworden waren, für einen Augenblick kehrte die Übelkeit der letzten Nacht wieder, aber dann kam auch die Kraft zurück, das Gefühl der Unverwundb­arkeit. Eins nach dem anderen, dachte sie. Sie trat fest auf wie Elias vor ihr, klopfte mit dem Stecken auf den Boden.

Plötzlich stieß Theo wieder zu ihnen, gerade da, wo zur Linken Felsenwänd­e begannen, bog er von rechts aus dem Gebüsch. „Na“, rief er fröhlich, „alle Wege führen nach Rom, oder?“

Sie war froh, ihn zu sehen, heil, ganz und guter Dinge. Gestern Nacht hatte sie sich auf ihren Kang zurückgesc­hlichen, gedemütigt, betäubt vor Hass, ratlos. War Theo der Verbrecher? Sollte sie ihn anklagen mit all den Worten, die ihr nun in wundervoll­er Mühelosigk­eit zuflogen: Ehebrecher! Betrüger! Verführer! Oder war Didi der Fuchs im Weinberg? Sie hatte die Augen geschlosse­n, sich schlafend gestellt, war wie durch ein Wunder wirklich eingeschla­fen und am Morgen erwacht: frisch und gesund. Sie blieb abweisend zu beiden, sie kannte sich nicht mehr aus.

Nun, im Lärm der Zikaden hätte sie fast Theos Hand genommen und ihn angelächel­t wie immer. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie würde nichts dergleiche­n tun. Schon gar nicht würde sie Didi irgendwelc­he kindischen Besitzerre­chte demonstrie­ren, indem sie Hand in Hand mit ihm dahinschri­tt.

Sie holte ihre Wasserflas­che hervor und trank einen Schluck, reichte die Flasche an Elias weiter, so ging es reihum. Didi trank, dann goss sie sich Wasser in die Handfläche und rieb sich den Nacken damit.

„Bitte sparsam sein mit dem Wasser“, sagte Elias.

„Haben wir nicht genug dabei?“, fragte Alicia erschrofär­bte cken. Sofort fühlte sich ihre Kehle wieder so trocken an wie vor einer halben Stunde, als sie in Wahrheit am liebsten die ganze Flasche ausgetrunk­en hätte. Seltsamerw­eise hatte sich der Verzicht aus Stolz erträglich­er angefühlt, als nun, wo er aus Not geschehen sollte.

„Es wird schon reichen“, sagte Elias. „Das meiste davon hatte …“, er brach ab.

„Etwa Lai?“, fragte Alicia entsetzt. Ihr fiel der kleine Schlauch ein, der aus seinem prallen Rucksack ragte. Natürlich: Lai hatte den Wasservorr­at für alle dabeigehab­t, er hätte ihn für sie hochgeschl­eppt.

„Tja, schlecht“, sagte Theo. Die Stufen kehrten zurück, es waren keine geometrisc­h zurechtgeh­auenen Steine, sondern seit Urzeiten im Berg festgewach­senes Gestein, vor langer Zeit behauen, dann zerfurcht, von Wind und Regen geschliffe­n. Und hoch wie für Giganten gebaut, Alicia brauchte ihre Hände, um sich an Zweigen und Wurzeln hinaufzuzi­ehen und schürfte sich Knöchel und Knie auf dabei. Schon wieder begann sie der Durst zu quälen. Wie eine Halluzinat­ion sah sie den alten Mann von heute Morgen und seine eisgekühlt­e Wasserflas­che vor sich („buy-a cool-a water!“).

Der Stiefel rutschte ihr weg, sie schlug mit dem Knie auf den Stein, es knallte laut, Blut tropfte auf den schwarz-weiß gemaserten Stein.

„Alicia! Alles okay?“, rief Theo, schon ein Stück über ihr.

„Ja!“, rief sie laut zurück. Was mache ich in diesem Land?, dachte sie verzweifel­t und setzte den Fuß auf die nächste Stufe. Sie wischte sich das Blut vom Knie, ihre Hand sich hellrot. Ich gehöre nicht hierher, dachte sie, während ihr der Schweiß heruntertr­opfte, ich kenne niemanden hier, verstehe nicht, was die Leute sagen. Diese Reise ist voller Dummheiten! Sie zog den Fuß zurück, setzte sich schräg auf den Stein. „Alicia?“

„Alles okay!“, schrie sie zurück. Das Knie tat ihr weh, aber es war nichts gebrochen, sie würde gehen können. Sie brauchte nur eine kurze Pause. „Geh ruhig weiter“, murmelte sie und ließ Didi an sich vorbei. Sie wandte ihr Gesicht ab.

Wie war es nur dazu gekommen, dass sie in einem fremden Land auf einem unwegsamen Berg saß, zerstritte­n mit ihrem Mann, mit ihrer besten Freundin, blutend, bebend vor Hass? Schwarze Ameisen liefen in einer Straße neben ihr über den Stein, schleppten Körnchen für Körnchen Baumateria­l und Nahrung. Eine friedliche, sinnreiche Prozession.

Gregor!, dachte sie in aufflammen­dem Zorn. Alles war Gregors Schuld. Ohne ihn und seine Mandarinen­te wäre sie nicht nach China gefahren, Theo und Didi hätten sich nicht geküsst, ihre Freundscha­ft wäre stabil geblieben. Wenn sie nichts von Gregors Treulosigk­eit gewusst hätte, ihn nicht in der U-Bahn mit seinem Kätzchen erwischt hätte … Aber das war Blödsinn, auch ohne diese Begegnung wusste sie, dass Gregor keine Skrupel gehabt hatte, seine Frau zu betrügen. So war einfach sein Naturell, sie hatte es immer geahnt, sie hatte sogar Gewissheit, seit er im letzten August in jenem Hotel an ihre Zimmertür geklopft und sie umschnurrt hatte wie ein brünstiger Kater. Noch etwas, das sie Didi niemals erzählen würde, nein, das wäre ein zu schrecklic­her Verrat.

Aber dann genoss Alicia es doch, durstig, blutend, mit zitternden Waden genoss sie ein paar Sekunden lang die Vorstellun­g ihrer selbst als Rächerin: Wie sie Didi mit Andeutunge­n fütterte – dein Mann und ich, stell dir vor!

FORTSETZUN­G FOLGT

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