ALICIA JAGT EINE MANDARINENTE
74. FORTSETZUNG
Mit zitternden Fingern stopfte Didi im Morgenlicht den zusammengefalteten Schlafsack in den Rucksack, während sie nach weiteren Kreisen suchte, in die Alicia nie würde vordringen können, und nach einem plausiblen Grund, der ihre unverzeihliche Entgleisung von gestern Nacht doch würde rechtfertigen können.
Sie setzte den Rucksack auf den Sims des Eintritts, um ihn von da hinauszuwerfen. Von draußen hörte sie Theo auflachen. Elias stimmte ein. Wie würden die drei auf sie reagieren? Hatte Alicia sie schon bei allen verraten? Von Gregors geheim gehaltenem Leben, seinen ständigen Affären erzählt? Sie sagte sich, dass all das hier nicht mehr lange dauern würde, gerade noch zwei Tage wären sie in China, dann befänden sie sich alle schon wieder auf dem Heimflug. Und hinterher – müsste sie keinen von ihnen wiedersehen. Dies Letzte war der beste Gedanke von allen, an den würde sie sich klammern.
Mit zusammengebissenen Zähnen tastete sie nach den aufeinandergeschlichteten Steinen vor dem Eingang zum Turm, um das wackelige Provisorium von Treppe hinunterzuklettern, als eine Hand nach der ihren griff. Elias! Dankbar lächelte sie ihn an. Elias war ein Segen. Der kannte niemanden von ihnen näher, wusste nichts von Gregor. Konnte sie nicht die nächsten Stunden alleine mit Elias sprechen, die anderen einfach ignorieren?
Noch war es nicht richtig hell, das machte es leichter. „Guten Morgen“, sagte sie in die Runde, ohne jemand Bestimmten anzusehen. Sie zwang sich ein Lächeln ab.
„Die Reste vom Frühstück“, sagte Theo freundlich und wies auf eine drei Viertel volle Wasserflasche und ein Stück Papier, auf dem eine Handvoll Erdnüsse mit Rosinen lag. „Elias sagt, was uns jetzt noch erwartet, wird einfach – in eineinhalb Stunden sind wir unten am Hotel. Da bekommen wir sicher ordentlich zu essen. Habt ihr eigentlich auch solchen Muskelkater?“
„Oh ja!“Sie lächelte schwach. Hatte Alicia nun Theo informiert? Sie saß verdächtig nahe neben ihm. Didi erinnerte sich an ihren Vorsatz und wandte ihr Gesicht ganz Elias zu. „Haben Sie gestern Abend hier nicht irgendwas Spannendes erzählt? Ich habe nur ein paar Worte gehört. Es hörte sich so nach Lagerfeuergeschichte an.“Ihre Stimme klang unbeschwert, sie hatte sie unter Kontrolle.
„Mauergeschichten“, sagte Elias, „es gibt viele davon.“
„Ich meine, ich hätte das Wort Witwe gehört.“Wie leicht sich dieses Wort aussprechen ließ!
„Ah“, sagte Elias, „die Sage von Meng Jiang Nü. Eine Frau sucht ihren Mann auf der Mauer, aber er ist gestorben.“
„Und dann?“, fragte Didi. Alicia hielt ihren Blick gesenkt. Jetzt konnte sie sich den Luxus leisten, dieses Gesicht von der Seite zu studieren: die roten Haare, die sich hinter den Ohren kräuselten, Alicias kleines, viereckiges Kinn. Konnte es wahr sein, dass Gregor diese Lippen geküsst hatte, die sommersprossigen Wangen, Alicias breite, rotbraune Brauen? Aber die Vorstellung war zu qualvoll, sie brach sie ab.
„Die Witwe hat so viel geweint, dass ihre Tränen die Mauer aufgeweicht haben, an der Stelle ist sie eingestürzt.“
„Wie schrecklich“, sagte sie automatisch, sie hatte kaum hingehört, ein neuer Gedanke war ihr gekommen, einer, der Erlösung brachte. So dumm es gewesen war, Alicia von Gregors Seitensprüngen zu erzählen – das Herzstück ihres geheim gehaltenen Kummers hatte sie ja gar nicht verraten: wem diese elende Mandarinente gegolten hatte, dass sie verlassen worden war, die ganze Geschichte mit Britta, all das, um dessen Geheim- haltung sie so gekämpft hatte – es blieb weiter verborgen. Auf denn! Keine weitere Trübsal mehr! Heute Mittag schon wären sie wieder in Peking. Die Dolmetscherin würde ihr eine kitschige chinesische Entenfigur aushändigen, damit würde sie nach Hause fliegen und dann war alles, alles vorbei.
Ein großer, grauer Vogel, eine Taube kam angeflogen und setzte sich auf einen Zweig über ihnen. Interessiert beobachtete sie, wie die Menschen unter ihr ihre Brosamen aufsammelten.
Sie luden sich ihre Rucksäcke auf. Die Sonne war aufgegangen, die Vögel stellten das Singen ein. Als vollzögen sie eine Wachablösung setzten gleich darauf die Zikaden ein, überall herum knisterte schon wieder die Luft in zitterndem Rhythmus.
Theo half Alicia mit ihrem Rucksack. Auch dieser Anblick schmerzte, aber nur kurz. Wenn Theo von dieser AliciaGregor-Sache wüsste, dachte sie. Der Gedanke barg ein gewisses Potenzial zum Gegenschlag, sollte Alicia sie noch einmal angreifen wollen.
Sie atmete auf. Ich könnte wieder reisen, dachte sie. Die kleine Wohnung, in der sie in Florenz gelebt hatte, fiel ihr ein.
„Da vorn“, sagte Elias, „der eine Turm noch, dann kommt schon der ausgebaute Abschnitt von Simatai.“
Alles fiel von ihr ab. Nach der schrecklichen Strapaze gestern war es eine Lust, über die letzten unbehauenen Steine zu laufen. Sie hatte zu wenig gegessen und auf einem harten Grund geschlafen, aber trotz ihres Muskelkaters fühlte sie sich elastisch, voller Energie. Was für ein Wunder war die Mauer! Sie mäanderte auf den Bergkämmen, machte Kehrtwendungen, nahm Anlauf, um sich auf den nächsten Hügel zu schwingen, und überall da, wo sie die Richtung änderte, erhob sich ein Turm. Manche waren nur noch als kurze, mehlgraue Stumpen vorhanden, andere reckten sich ziegelrot und erhaben mit mehreren schwarzen Fensterlöchern übereinander.
FORTSETZUNG FOLGT