Die Rückkehr der Menschlichkeit
Von der Kanzlerin bleibt eine Geste – Ende der Reihe „Merkel: eine Bilanz“
Aylan Kurdi stirbt am 2. September 2015, er ist erst drei Jahre alt. Er ertrinkt im Mittelmeer, als das Boot mit den Flüchtlingen kentert; die Wellen spülen seinen kleinen Leichnam an einen türkischen Strand.
Noch in der Nacht veröffentlichen erste Medien sein Foto: ein kleiner Junge aus dem syrischen Kobane, kurze Hosen, das rote T-Shirt hochgerutscht, sein Gesicht liegt in der Gischt. Es ist das traurigste Bild der Welt.
Drei Jahre später verbreitet die Hilfsorganisation „SeaWatch“eine Zahl, große Schlagzeilen macht sie nicht: Demnach stirbt derzeit fast jeder fünfte Flüchtling beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. In diesem Jahr sind bereits knapp 1800 Menschen ertrunken. Mindestens ebenso viele, vermutlich sogar mehr Flüchtlinge haben es gar nicht erst bis zum Meer geschafft. Sie starben vorher auf ihrem Weg durch die Wüste.
Es ist Europas großes Versagen, dass wir dieses massenhafte Sterben auf der Flucht seit Jahren hinnehmen. Nein, es ist Europas Schande.
In Afrika machen sich die Menschen trotzdem weiterhin auf den gefährlichen Weg. Weil sie vor Krieg weglaufen, weil sie zu Hause hungern, weil sie dort keine Zukunft sehen. Und weil sie in unserer digital vernetzen Welt wissen, dass es woanders besser ist: In reichen Ländern wie Deutschland gibt es keinen Krieg, und selbst die Armen müssen nicht hungern.
Im Merkelsommer 2015 sind so viele Menschen übers Meer gekommen wie noch nie. In Syrien und im Irak hat die Terrormiliz „Islamischer Staat“immer schlimmer gewütet, jetzt, im September 2015, laufen die Flüchtlinge über den Balkan auf Westund Nordeuropa zu. Osteuropa reagiert zunehmend kühl: An den Grenzen hagelt es Schläge, Ungarn zieht einen Anti-Flüchtlingszaun hoch, Mazedonien setzt Tränengas gegen Flüchtlinge ein.
In Deutschland zerstreitet sich derweil die Große Koalition über die „Flüchtlingsfrage“; die CSU liefert knackige Schlagzeilen, die von heute sein könnten. Die Flüchtlinge sind aber immer noch da, täglich stranden welche in Italien oder Griechenland. Es gibt immer neue Bilder, eines wird später als Welt-Pressefoto ausgezeichnet: Ein völlig erschöpfter Vater reicht verzweifelt sein Baby durch den Flüchtlingszaun. Bald machen sich Hunderte Menschen in Ungarn zu Fuß auf den Weg Richtung Deutschland, sie laufen über die Autobahn.
Angela Merkel (CDU) ist die deutsche Bundeskanzlerin.
Sie tut etwas, das in der sich im Dauerwahlkampf befindlichen deutschen Politik kaum mehr vorkommt: Sie handelt, und zwar schnell. Sie will verhindern, dass Ungarn die Flüchtlinge mit Gewalt stoppt. Sie will auch nicht die seit dem Schengen-Abkommen offenen deutschen Grenze schließen und mit Waffengewalt schützen müssen. (Denn wie soll man Menschen sonst am Grenzübertritt hindern?) Sie will die erschöpften Menschen buchstäblich von der Straße holen.
Ausgerechnet Angela Merkel, kühle Strategin, nüchterne Rednerin, sachliche Naturwissenschaftlerin, trifft nun die erste Entscheidung, an die ich mich erinnern kann, die das „C“im Kürzel CDU betont und nichts anderes: christlich. Es ist eine Entscheidung, die an die Reihenfolge erinnert, die Politik eigentlich immer einhalten sollte: Zuerst kommt der Mensch, dann der Rest.
Merkels „Grenzöffnung“, wie sie später fälschlich genannt wird, ist eine Geste von historischer Größe, so wie es 1970 Willy Brandts Kniefall am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos war und Helmut Kohls Griff nach der Hand von François Mitterrand 1984 an den Gräbern von Verdun. Eine Geste, die viel mehr ist als eine politische Entscheidung, nämlich ein Signal.
Ich gehöre einer Generation an, die mit Begriffen wie „Nationalstolz“wenig anfangen kann. Wir hatten noch Großeltern, die von Krieg erzählten, und eine Elterngeneration, die uns den Weg dorthin erklärte: Er führte über die Menschenverachtung. Als ich aber die Bilder vom Münchner Hauptbahnhof sah, die glücklichen Flüchtlinge und die freundlichen Deutschen mit den Kuscheltieren, da war ich stolz auf dieses Land und seine Bürger.
Erwartungsgemäß hielt der Stolz nicht lange an.
Autor dieses Beitrages ist Karsten
Krogmann. Der 49-jährige Journalist ist der Chefreporter dieser Zeitung. @ Den Autor erreichen Sie unter Krogmann@infoautor.de
Merkel hat schwere Fehler begangen. Sie hat sich verschätzt bei der Vorbildwirkung ihrer humanitären Geste auf andere EU-Staaten. Sie hat alle Regierungschefs angerufen, sie hat nur Absagen kassiert. Auch das ist ein Versagen Europas.
Vor allem aber hat Merkel die Angst der deutschen Mitte vor dem Fremden unterschätzt und ihre Sorge vor einem sozialen Abstieg. Sie hat die Automatismen der Parteipolitik ignoriert, die ihre einsame Entscheidung in Gang setzen würde. Sie hat die Notwendigkeit des schnellen Aufbaus von Infrastruktur übersehen und den Vertrauenseinbruch, den der durch fehlende Infrastruktur folgende Kontrollverlust erzeugen würde. Ihr wiederholtes „Wir schaffen das“war zu wenig.
Die Reparatur dieser Fehler scheitert seit 2015 am Grundproblem einer Großen Koalition im Dauerwahlkampf, am Aussitzen als politisches Prinzip. Ob es um den Diesel geht, um Rente, Pflege, Bildung: Die Regierung wagt keine schwierige Entscheidung und schon gar keinen großen Wurf. So liegt auch das Thema Flüchtlinge seit 2015 brach.
Das traurige Bild von Aylan Kurdi ist vergessen im Herbst 2018. Er wäre jetzt sechs Jahre alt. Im Mittelmeer sterben weiter die Menschen.
In Deutschland nennen hochrangige Politiker mittlerweile Menschen, die durch die Wüste und durchs Mittelmeer und durch den Balkan nach Deutschland kommen: „Asyltouristen“.
Willy Brandt war nicht unfehlbar, im Gegenteil. Er trat zurück, nachdem er einen DDR-Spion zu nah an sich herangelassen hatte. Helmut Kohl stolperte über die CDUSpendenaffäre. Und Merkel scheitert, weil sie seit dem Merkelsommer 2015 jede große Entscheidung scheut.
Es bleibt aber, wie bei Brandt und Kohl, die Geste. Merkel hat uns an das Primat der Humanität erinnert, jedenfalls vorübergehend. In eine Gesellschaft, die sich jeden Tag weiter entsolidarisiert, hat sie das Signal gesendet: Erst kommen die Menschen, dann eure Bedenken.
Das bleibt für mich von Merkel, das muss einfach bleiben.
@Ein Online-Spezial „Das Ende der Ära Merkel“finden Sie unter www.NWZonline.de/merkel-aera