Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

76. FORTSETZUN­G

Der Hof war eben noch so leer gewesen, plötzlich füllte er sich mit Chinesen. Von allen Seiten kamen sie daher, hübsche kleine Kellnerinn­en in Uniform umringten sie, der Wirt eilte im Trab aus seinem Büro, er schaukelte mit dem Kopf und zischte durch die Zähne, Passanten strömten in den Hof und rissen die Mäuler auf. Zwei weitere Polizisten tauchten auf.

Das Nächste kam in kurzen Schlägen wie bei einem Boxkampf. Lai sagte etwas.

Didi wollte Elias bitten, für sie zu übersetzen.

Der Polizist unterbrach sie. Sein Greinen ging über in kurzes, scharfes Gebell. Der Wirt schnauzte die Mädchen an; die flatterten zurück ins Hotel.

„Die Pässe sind noch im Hotel“, rief Theo dazwischen.

„Man holt sie schon“, sagte Elias. „Wir müssen mit.“„Was? Wohin?“

„Aufs Revier.“„Was?“, fragte Didi. „Ich bin deutsche Staatsbürg­erin. So leicht geht das nicht. Die können uns nicht einfach …!“

„Doch“, sagte Elias. „Sie können. Wir sind alle festgenomm­en.“

Ping Ye

Peking, 25. Mai

Lieber Roland, wie geht es dir in Heidelberg? Ich bin die Ping, Studentin aus deinem letzten Kurs hier an der Beiwai-Universitä­t in Beijing. Du hast gesagt, dass du dich über Briefe freuen wirst, so ich schreibe dir heute.

Ich bin schon fertig mit Studium, aber ich möchte so gerne noch weiter in Deutschlan­d studieren. Ich hoffe einfach darauf immer weiter. Lieber Roland, ich glaube, du hast nie es bemerkt, aber jetzt möchte ich es dir sagen und deinen Rat erbitten. Ich habe großes Problem mit R nach Konsonant in deutscher Sprache. Oft es funktionie­rt mit anderen Worten, aber manchmal es gibt nicht die passenden. Zum Beispiel Große Mauer – ich sage Chinesisch­e Mauer, aber ich weiß, das ist nicht richtiges Wort. Wie ist möglich, R nach f oder g oder k oder p oder t sprechen? Kennst du eine Methode, um dieses zu lernen? Ich übe so oft, TSEZ SEU NGLLender 6ZSr: RGberZ KubicS fast Tag und Nacht, aber es klappt nie. Manchmal das macht mich verzweifel­ter Mensch. Na ja. Man soll nie aufgeben, das stimmt auch.

Im Moment arbeite ich als eine Dolmetsche­rin. Morgen kommen meine ersten Kunden zurück von einer schönen Wanderung auf der GroßenMaue­r (Große Mauer – haha!). Sie sind sehr nett, zwei Frauen und ein Mann aus deiner Heimat. In Beijing ich habe für sie ein Souvenir gekauft: Tang Lao Ya, du kennst schon diese Figur, oder? Es ist bisschen seltsam, weil sie eigentlich doch zur westlichen Kultur gehört. Oder vielleicht das ist auch eine westliche Ironie?

Übermorgen fliegen die drei Gäste wieder in ihre Heimat, dann habe ich neuen Auftrag bekommen, nämlich ich soll deutsche Medizinstu­denten betreuen. Sie wollen Traditione­lle Chinesisch­e Medizin lernen. Ah – ich übe schon dieses Wort: traditione­ll (ich denke, „altmodisch“geht nicht als ein Synonym?).

Lieber Roland, wenn ich genug Geld verdient habe, dann ich mache eine Reise und besuche dich in Heidelberg. Bist du einverstan­den mit diesem Plan?

Viele Grüße aus China von deiner Ping

Alicia

VON EINER SEKUNDE AUF DIE ANDERE schaute ihnen niemand mehr ins Gesicht. Der Wirt und die Mädchen, soeben noch wohlgesinn­te lächelnde, zwitschern­de Wesen, wandten die Blicke ab, als sie nun alle, eskortiert von vier Polizisten, zum Parkplatz hinuntergi­ngen.

Der jüngere der beiden Polizisten von vorhin kam an ihre Seite, einen Augenblick befürchtet­e Alicia, er würde sie anfassen, aber er ging nur mit ausdrucksl­oser Miene neben ihr her, der ältere war offenbar irgendwo hinter ihnen, sehen konnte sie ihn nicht und sich umzudrehen wagte sie nicht.

Didi, neben ihr, begann wieder zu sprechen: „Was soll das hier?!“Sie sprach in gereiztem Tonfall, bewegte die Hände so wie jemand, der ein lästiges Insekt aus seinem Drink schütteln möchte.

Das sind aber keine Insekten, dachte Alicia, die bis jetzt folgsam und fühllos wie ein Automat auf alle Anweisunge­n reagiert hatte und nun eine neue Nervosität in sich brummen spürte, die anschwoll mit jedem Wort, das sie aus Didis Mund hörte. Lass sein, Didi, hör auf! Wenn sie ihr diese Botschaft nur irgendwie lautlos morsen könnte: Sei still, um Gottes willen! Sie wusste, dass sie selbst jetzt nicht auch noch sprechen durfte.

Die Situation würde sich verschlimm­ern, wenn noch einer laut würde, ja, wenn sie nur einen Mucks von sich gäben. Sie musste nur Elias und Lai ansehen, um das zu wissen – wie die beiden wortlos und mit gesenkten Köpfen vor ihnen dahinschri­tten. Dies hier war die Szene, in der die berühmte Stecknadel nicht zu Boden fallen darf. Alicia kannte diese Szene, sie hatte sie öfter schon erlebt. Didi, um Gottes willen, sei ruhig jetzt!

Doch Didi sprach weiter, ungehalten und immer lauter: „Es ist einfach lächerlich, was die da machen! Ich habe keine Lust … Wir haben absolut nichts …“

Ein Wutschrei beendete ihre Rede. Abrupt blieb die ganze Truppe stehen. Der schwergewi­chtige Polizist war vor die drei Europäer getreten. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Die Mundwinkel hatte er herabgezog­en, so dass sein Mund ein umgedrehte­s U bildete. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine senkrechte Falte gebildet. Unter den halb gesenkten Lidern wanderten seine Augen hin und her, so als suche er noch nach etwas. Besser gesagt nach jemandem. Nach dem Richtigen. Dem, der seinen Zorn verdient hatte.

FORTSETZUN­G FOLGT

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