Nordwest-Zeitung

„Ich fühle Scham und teilweise Ekel“

15 Geständnis­se und viele Erinnerung­slücken: Der zweite Prozesstag im Fall Högel

- VON KARSTEN KROGMANN

Wau geht in einem Mann vor, der wehrlose Krankenhau­spatienten tötet? Offenbar nicht viel – das lassen Högels Antworten vor Gericht vermuten.

OLDENBURG – Wie erinnert sich ein Krankenpfl­eger an Patienten, mit denen er vor 18 Jahren zu tun hatte? Denkt er an ihre Ängste zurück oder an ihre Schmerzen? Erinnert er sich an ihre Gesichter? Oder sieht er ihre besorgten Angehörige­n am Bett stehen, Kinder und Enkel, die Trostkarte­n mitgebrach­t haben und Blumen?

Bei Niels Högel, 41 Jahre alt, ehemaliger Krankenpfl­eger, verurteilt­er Mörder, funktionie­rt das anders.

An Franziska H. zum Beispiel, gestorben am 26. Juli 2000 durch eine Überdosis Lidocain im Klinikum Oldenburg, kann sich Högel gut erinnern: Er sieht ihren offenen Brustkorb vor sich, den Vakuumverb­and, „diesen speziellen Verband“, und natürlich die intraaorta­le Ballonpump­e, „ich hatte davon schon gehört“.

Högel kann sich auch an Karl S. erinnern, gestorben am

27. Dezember 2000 an einer Überdosis Kalium: Bei S. gab es diese „massive Durchblutu­ngsstörung im Gehirn“, „das hatte ich so vorher auch noch nicht gesehen“.

An Alfred H., gestorben am

17. April 2001 nach einer Überdosis Ajmalin, erinnert sich Högel ebenfalls: H. wurde mit Elektrosch­ocks reanimiert, zuerst über Elektroden am Kopf, dann per Elektroson­de direkt am Herzen, eingeführt über die große Vene. „Das habe ich vorher wohl schon mal gesehen, aber noch nie mitgemacht“, erinnert sich Högel.

15 erste Geständnis­se

Es ist der zweite Verhandlun­gstag im Klinikmord­prozess: Högel, angeklagt wegen 100-fachen Mordes, soll sich zu jedem einzelnen Fall äußern; Richter Sebastian Bührmann hatte ihm beim Prozessauf­takt aufgetrage­n, im Gefängnis die Krankenakt­en der ersten 30 toten Patienten aus der Anklagesch­rift durchzuarb­eiten. „Herr Högel“, sagt Bührmann, „wir werden heute einen sehr intensiven und anstrengen­den Tag haben.“

Er richtet den Blick in den Saal: „Wir fangen an mit Frau Else S.“. Die 77-Jährige, gestorben am 7. Februar 2000 an Lidocain, war laut den Ermittlung­sergebniss­en der Soko „Kardio“Högels erstes Mordopfer.

In der Weser-Ems-Halle sind die Reihen der Nebenkläge­r an diesem Morgen deutlich gelichtet, dafür sind die Zuschauerp­lätze fast vollständi­g besetzt. Bührmann wendet sich den Angehörige­n zu. „Es wird notwendig sein, dass wir auch in Teilen die Krankenges­chichte erörtern“, warnt er sie vor. „Wenn Sie Probleme haben, das zu hören, gehen Sie gern raus.“Der Aufenthalt­sraum für die Nebenkläge­r sei durchgängi­g besetzt mit Helfern der Organisati­on Weißer Ring. „Achten Sie auf sich, muten sich nicht zu viel zu“, bittet Bührmann.

Högel belastet Kollegen

26-mal wird er Högel an diesem Tag fragen, ob er sich erinnern könne: an den jeweiligen Patienten, an die Krankheits­geschichte, an eine Manipulati­on. „Manipulati­on“, so heißt hier vor Gericht der mutmaßlich­e Mord am Krankenbet­t. 15-mal wird Högel angeben, er erinnere sich, er habe manipulier­t. In den meisten anderen Fällen kann oder will er sich nicht erinnern. Aber fast immer sagt er: „Ich kann es nicht ausschließ­en.“Einmal sagt er: „Wer soll das sonst getan haben? Ich kann mir keinen anderen vorstellen, der so was tun würde.“

Manchmal fällt ihm sogar ein Motiv ein für eine Tat. Er wollte eine Kollegin beeindruck­en, sagt er einmal, „das war dieses Imponierge­habe gegenüber Schwester L.“.

Einen der Morde allerdings, es ist gleich der zweite Vorwurf in der Anklagesch­rift, streitet Högel rundweg ab. „Das ist einer von wenigen Patienten, wo ich sagen kann, dass ich keine Manipulati­ogen nen vorgenomme­n habe“, sagt er. Er deutet stattdesse­n an, dass eine Kollegin sich verdächtig verhalten habe. Sie habe einen „gewissen Ruf“gehabt. Zwar habe das niemand ausgesproc­hen, „aber jeder wusste, was gemeint war“.

Högel hockt da hinter der Anklageban­k, die schwarze Adidas-Jacke bis oben zugezogen, so beugt er sich übers Mikrofon und äußert seine Vorwürfe mit ruhiger Stimme, sanft beinah. Sagt er die Wahrheit? Oder ist das alles nur eine weitere Variante der Högel-Inszenieru­ng, die man ihm bereits im Prozess 2014/15 vorgeworfe­n hatte?

In einem anderen Fall gibt

er zu, eine Patientin in einer Notfallsit­uation gespritzt zu haben – reanimiert habe sie dann aber ein Assistenza­rzt „wie im Wahn“, bis ihr die Herzdruckm­assage einen Rippenknoc­hen ins Herz gestoßen habe. „Ich kam gar nicht ans Bett ran“, sagt er.

Högel belastet ehemalige Kollegen, er erwähnt ihre „mangelhaft­e Dokumentat­ion“, er sagt, „dass Pflegekräf­te kurzfristi­g von sich aus Medikament­e injiziert haben, das kam vor“. Er sagt so etwas fast beiläufig, gern mit dem Zusatz: „Ich will nichts entschuldi­gen“. Aber zwischen den Zeilen legen solche Sätze doch immer den Eindruck nahe: Das ganze System ist kaputt, ich selbst bin nur ein Opfer. Högels regelmäßig­en Hinweise auf seinen Medikament­enmissbrau­ch und psychische­n Stress vervollstä­ndi- ein solches Bild. Ist das sein Ziel in diesem Prozess? Schuldig ja – aber nicht allein?

Als ein Oldenburge­r ExKollege am Nachmittag diese Vorwürfe Högels auf NWZonline.de liest, sagt er: „Er will möglichst viele mit runterzieh­en in den Abgrund. Das ist wahrlich krank.“

„Jeder Fall tut mir leid“

Rechtsanwä­ltin Gaby Lübben, die fast 100 Nebenkläge­r vertritt, fragt Högel, was er heute empfinde, wenn er die Krankenakt­en lese, wenn er sich an seine Taten erinnere.

„Scham“, sagt Högel, „teilweise Ekel vor mir selbst. nnd ein großes Fragezeich­en.“Dann sagt er erstmals: „Jeder einzelne Fall, auch wenn ich es lese, tut mir unendlich leid.“

Bührmann macht weiter seine Arbeit (und entschuldi­gt sich bei den Angehörige­n im Saal für das Wort „Arbeit“): Erika S., gestorben am 2. März 2001, Ajmalin. Wilhelm W., gestorben am 3. März 2001, Lidocain. nrsula J., gestorben am 4. März 2001, Ajmalin. Elfriede D., gestorben am 5. März 2001, Sotalol. „Wenn man das so sieht“, sagt der Richter, „da sterben die Patienten jetzt täglich.“

Gab es Fälle, in denen Högel so etwas wie Trauer verspürte?

Doch, sagt Högel, einen Fall habe es gegeben, so ziemlich am Ende: der Tod von Adnan Tüter, zweifacher Familienva­ter, verstorben mit 47 Jahren 2004 in Delmenhors­t. Tüters Frau hat 2017 ihre Leidensges­chichte in der Ð erzählt. Högel sagt, in den Fall Tüter sei er „emotional sehr verwickelt“gewesen. Warum Herr Tüter? „Weil ich gesehen habe . . .“, Högel stockt kurz, „weil es für mich ein Vorbild war, wie familiärer Zusammenha­lt funktionie­ren kann.“

Nach 26 Fällen beendet Richter Bührmann den Prozesstag. Högel ist angeklagt wegen 100-fachen Mordes, wegen sechs Taten wurde er bereits in früheren Prozessen verurteilt. Dass die Zahl seiner tatsächlic­hen Opfer sehr viel höher sein könnte, ist bekannt: Weit mehr als 100 Patienten, die während der Högel-Schichten gestorben sind, wurden feuerbesta­ttet, ihre Leichen konnten nicht mehr auf Medikament­enrückstän­de untersucht werden. Früh hieß es deshalb, Högel könnte auch 200 Patienten getötet haben.

Hausarbeit für den Mörder

Im Prozess taucht nun eine weitere Größe auf. Högel spritzte seinen Opfern gefährlich­e Medikament­e, um sie reanimiere­n zu können. Wenn die Reanimatio­n misslang, starben sie. In der WeserEms-Halle sagt Högel, dass es eine weitaus höhere Zahl an erfolgreic­hen Reanimatio­nen gegeben habe. In der Anklagesch­rift gibt es manchmal lange zeitliche Pausen zwischen den Todesfälle­n, mitunter monatelang. Högel sagt: „Ich kann mich nicht erinnern, eine Pause gemacht zu haben.“An wie vielen Patienten mag er sich also vergriffen haben? Vielleicht an 400? An 500? Feststellb­ar sind solche Taten nicht, justiziabe­l auch nicht: Als Körperverl­etzung wären sie längst verjährt.

Högel kann sich nicht einmal an seine erste polizeilic­h nachgewies­ene Tat erinnern. Else S. starb nach einer Überdosis Lidocain. Högel meint aber, er habe mit Kalium angefangen zu töten. War Else S. gar nicht sein erstes Opfer?

Am dritten Prozesstag will das Gericht weitermach­en mit Fall 27. Es ist in der Tat eine intensive und anstrengen­de Suche nach der Wahrheit. Nach der Mittagspau­se kommt mehr als die Hälfte der Zuhörer nicht wieder zurück in den Gerichtssa­al.

Der Richter gibt Högel die Hausaufgab­e auf, noch am Abend im Gefängnis weitere Krankenakt­en durchzuarb­eiten, „so weit Sie kommen“.

Warum mordete Niels Högel, ein Krankenpfl­eger aus Wilhelmsha­ven?

Högel sagt: „Warum ich letzten Endes so empathielo­s war, und so eiskalt, ich weiß es einfach nicht.“Er macht eine kurze Pause. „Zumal ich so ja auch nicht aufgewachs­en bin, ohne menschlich­e Wärme.“

Mehr Texte: www.NWZonline.de/krankenpfl­eger-prozess

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BILD: TORSTEN VON REEKEN Lange Anklageban­k: Niels Högel versteckt zu Beginn des zweiten Prozesstag­es sein Gesicht hinter einer Aktenmappe. Neben ihm sitzen seine Verteidige­rinnen Ulrike Baumann (Mitte) aus Münster und Kirsten Hüfken aus Oldenburg.
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BILD: TORSTEN VON REEKEN Suche nach Wahrheit: Nebenkläge­r in der Weser-Ems-Halle

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