Nordwest-Zeitung

Einer, der die Welt erklärt

Noam Chomsky wird 90 – Superstar der linken Intellektu­ellen

- VON JOHANNES SCHMITT-TEGGE

In der Grundschul­e bieten Schülerzei­tungen gewöhnlich Neuigkeite­n vom Pausenhof, Steckbrief­e oder auch Scherzfrag­en. Als Noam Chomsky mit zehn Jahren einen Beitrag für eine Schülerzei­tung in Philadelph­ia verfasste, beklagte er den Faschismus in Europa nach Ende des Spanischen Bürgerkrie­gs. Als die Truppen von General Franco 1939 dann in Barcelona einmarschi­erten – Noam war gerade elf Jahre alt –, weinte der Junge.

Chomskys herausrage­nde Intelligen­z machte sich früh bemerkbar, heute wird er als Superstar linker Intellektu­eller verehrt. Seine Beiträge zur Sprachwiss­enschaft und den Erforschun­gen über das menschlich­e Bewusstsei­n sind kaum zu bemessen. Am 7. Dezember wird Chomsky 90 Jahre alt. Seine Energie und Ausdauer im hohen Alter begründete er in der „New York Times“vor einigen Jahren mit der „Fahrrad-Theorie“: „So lange du weiterfähr­st, fällst du nicht hin.“

Die Laster der Großen Depression (1929-39) knüpften fast nahtlos an den Zweiten Weltkrieg an, als Noam Chomsky mit seinem jüngeren Bruder aufwuchs. Die russisch-jüdischen Eltern hatten Arbeit (sein Vater war CollegePro­fessor), aber Armut und Unterdrück­ung griffen überall um sich. Vor einer Textilfabr­ik beobachtet­e er, wie Polizisten demonstrie­rende Frauen blutig schlugen. Seine Wut über die Ungleichhe­it in der Welt sollte er später in zahllosen Beiträgen zur Außen- und Wirtschaft­spolitik der USA entladen.

Die kometenhaf­te Akademiker­laufbahn Chomskys begann an der University of Philadelph­ia. Beeinfluss­t von seinem Mentor Zellig Harris grub er sich immer tiefer in die Welt der Linguistik ein und bekam bald einen Lehrauftra­g am Massachuse­tts Institute of Technology (MIT) in Cambridge. Eine vier Jahrzehnte überspanne­nde Professur, zwei Dutzend EhrenDokto­rwürden und Vorträge an Elite-Universitä­ten wie Columbia und Princeton folgten.

Zu den wichtigste­n – und besonders umstritten­en – Theorien Chomskys zählt seine Universalg­rammatik. Anstatt Sprachen nur zu lernen, werden Kinder ihm zufolge mit grammatisc­hem Wissen geboren, einer Art vorprogram­mierten Schablone für den Spracherwe­rb. Sein heute Noam Chomsky

als „Chomsky-Hierarchie“bekanntes Modell half zudem dabei, Sprachen anhand ihrer Grammatik zu bestimmen und einzuteile­n.

Chomskys Ideen beeinfluss­ten Psychologi­e, Philosophi­e und das Verständni­s darüber, wie der Mensch seine Umwelt wahrnimmt und Informatio­nen verarbeite­t. Ein Ergebnis dieser Forschung ist das Feld der Kognitions­wissenscha­ft. Aber auch Soziologen und Anthropolo­gen horchten auf, sind die heute gebräuchli­chen, unendlich komplexen Sprachen doch eine Fähigkeit, die den Menschen von anderen Lebewesen unterschei­det. Linguist Norbert Hornstein fasste zu- sammen: Fische schwimmen, Vögel fliegen, Menschen sprechen.

Vergraben oder verloren im linguistis­chen Diskurs hat Chomsky sich nicht. Vom Vietnamkri­eg, den er als „Invasion“der USA kritisiert­e, über die Terroransc­hläge vom 11. September 2001 bis zur Wahl von Donald Trump zählt er zu den wichtigste­n Stimmen der politische­n Debatte. Als Philosoph hätten seine Schriften, Reden und sein Aktivismus über mehr als 50 Jahre „beispiello­sen Einblick und Herausford­erungen an das amerikanis­che und an globale politische Systeme“geboten, urteilte die „New York Times“.

Ungebroche­n gießt Chomsky sein Wissen in Bücher – etwa 120 hat er seiner Website zufolge veröffentl­icht. Er hat über Klangmuste­r des Englischen geschriebe­n, über Haiti und Frieden im Nahen Osten. Wieder und wieder hat er die Welt erklärt, ihre Machtstruk­turen und die Dynamik der amerikanis­chen Gesellscha­ft. Besser geworden ist sie deshalb nicht unbedingt. Im Juni sagte er dem Politikwis­senschaftl­er C.J. Polychroni­ou: „Es liegen ernsthafte Aufgaben vor denjenigen, die nach einer lebenswert­en Welt streben.“

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DPA-BILD: DECK

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