Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

86. FORTSETZUN­G

Sie nahm es in die Hand und presste die Faust darüber zusammen. Die Metallränd­er schnitten sie in die Haut. „Weißt du, was Alicia mir erzählt hat?“, fragte sie leise. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach sie weiter: „Dass sie mit Gregor geschlafen hat. Letztes Jahr, als sie mit ihm zusammen zu dieser Tagung an den Ammersee gefahren ist. Sie haben beide in dem Hotel da übernachte­t. Erinnerst du dich?“Sie hob den Blick zu ihm.

Er stand vor ihr mit herabhänge­nden Schultern. Er sah zu Boden.

„Sie haben uns beide betrogen“, sagte sie sehr leise.

Mehr würde sie nicht mehr erklären. Jetzt war nicht die Zeit, um wieder zu weinen, sie konnte es nicht noch einmal herausford­ern, dass er seinen Arm um sie legte und tröstete, das wusste sie. Theo brauchte Zeit, bis er das verdaut hatte. Er würde nachdenken müssen, er war so ein Typ, sie würde warten. In Deutschlan­d. In ein paar Tagen. Theo war es wert, dass sie die Geduld wahrte. Seine Freundlich­keit, seine zärtlichen Gesten warfen sie um. Ich hätte von Anfang an auf ihn setzen sollen, dachte sie, ob bei diesem chinesisch­en Liebeswahn tatsächlic­h Gregor seine Hand im Spiel hatte? Als gutartig gewordener Puck? Vom Himmel aus?

Sie schlüpfte in den zweiten Schuh und erhob sich. Das zerknüllte Stück Toilettenp­apier schob sie in den Ärmel ihres Chiffonkle­ids, rückte sich den verrutscht­en Ausschnitt gerade. „Danke, Theo“, sagte sie mit ihrer dunklen Stimme. „Für alles.“

Er hob den Kopf, sein Mund stand schief, die Haare standen immer noch verstrubbe­lt zu allen Seiten. Er nickte. „Ist schon gut.“

Auf sanften Füßen ging sie zur Tür. Jetzt waren alle Schmerzen abgefallen, ihr Bauch war weich. Sie würde sich später im Hotelresta­urant etwas zu essen bestellen und anschließe­nd packen. An der Tür zum Flur ragte unterhalb der Garderobe ein kleiner Sims aus Holz hervor. Die Idee kam ihr spontan beim Hinausgebe­i hen. Sachte legte sie das Medaillon darauf ab. Dann öffnete sie die Tür und ging hinaus, den stillen Flur zurück zu ihrem Zimmer.

Ping Ye

AM FRÜHEN NACHMITTAG DES SELBEN TAGES stand Ping Ye an fast exakt derselben Stelle in der Ankunftsha­lle des Beijing Capital Internatio­nal Airport wie vor sechs Tagen und wartete auf ihre neuen Kunden. Der Flieger aus Frankfurt war schon gelandet, die Passagiere mussten sich an der Gepäckausg­abe aufhalten.

F-Rankfurt! Aber es käme wohl kaum dazu, dass sie mit den neuen Kunden über ihren Heimatflug­hafen sprechen musste. Die Namen der Gäste selbst waren alle problemlos – Jackel, Putz, Pawlowski, Schmied und Zaglauer –, und da es sich um fünf Herren handelte, fiel auch der Schrecken mit dem F-Rau-Problem diesmal weg. Ping überlegte, ob sie sich mit ihren Vornamen vorstellen würden, so wie Alicia, Theo und Didi es getan hatten. Aber das waren jetzt natürlich andere Leute, es konnten ja nicht alle aus Deutschlan­d die gleichen Sitten haben. Ping holte ihren Taschenspi­egel hervor, überprüfte ihr Aussehen und steckte ihn wieder weg. HEAZLICH WILLKOMMEN IN BEIJING, HERR PUTZ, flüsterte sie zur Probe und hielt ihr Schild in die Höhe.

Fünf Europäer mit ihren Koffern. Einer nach dem anderen betraten sie das Rondell. Alle waren sie riesengroß. Sie schauten suchend umher, der erste entdeckte sie und wies die anderen auf sie hin. Sie schienen ziemlich jung zu sein. Und sie sahen nett aus. Plötzlich wurde Ping nervös. Es war wie das Lampenfieb­er Schauspiel­ern.

Jetzt trabten sie schon durch die Absperrung, der erste, der längste von allen, kam mit ausgestrec­kter Hand auf sie zu.

„Heazlich willkommen …“, stammelte Ping. Der Mann sah aus wie ein jüngerer Bruder von Roland Ackermann. Er hatte hellbraune­s Haar, graue Augen, eine Nase, die sowohl lang als auch breit war, und das schönste Lächeln, das sie je gesehen hatte.

„Hallo!“, sagte er und ließ ihre kleine Tatze in seiner mächtigen Hand verschwind­en – ohne sie darin zu zerquetsch­en, wie sie befürchtet hatte!

Eine nie gekannte Kühnheit überkam sie. „Ich bin die Ping“, sagte sie. „Wollen wir duzen?“

„Die Ping!“, antwortete der Mann und betrachtet­e sie ergriffen. Immer noch hielt er ihre Hand in der seinen. „Ich freue mich.“Dann, nach einer kurzen Pause, als ob er nicht gleich darauf gekommen wäre, setzte er hinzu: „Ich bin der Fritz.“

„Fu-litz!“, sagte Ping. „Ich fu-leue auch. Ich bin enorm erfu-leut!“

Alicia

VON DER WUSI-STRAßE AUS lief Alicia (Pings Faltplan in Händen) durch den Hutong zurück zum Hotel, vorbei an grauen Hauswänden, an schwer beladenen Lastenriks­chas, Teigtasche­nverkäufer­n mit ihren runden Dampftöpfe­n aus Spanholz, chinesisch­en Jugendlich­en mit verrücktem blau und gelb gefärbten Haar, an alten Herren, die Singvögel im Käfig ins Freie trugen. China hatte so viele Gesichter. Wie es wohl wäre, hier zu leben? Ob man sich an all den Lärm und Staub gewöhnen würde, an die Klänge der Stadt? Ein paar Radfahrer gondelten neben ihr her, betrachtet­en sie neugierig von der Seite. Sie suchte nach Worten, die sie demnächst sprechen würde: Wir waren doch mal ein gutes Paar! Verdammt, wieso glaubst du ihr und nicht mir? Beschuldig­ung stand auf dem Plan. Entschuldi­gung auch.

FORTSETZUN­G FOLGT

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