ALICIA JAGT EINE MANDARINENTE
Wenn Alicia daran dachte, dass sie Theo bald alleine in ihrer Münchener Wohnung gegenübersäße, wurde ihr schwindelig.
Im Hotel nahm sie nicht den Lift, sondern lief zu Fuß die Treppe hinauf. Sie hatte keinen Schlüssel und musste klopfen. Theo öffnete sofort, als hätte er hinter der Tür gestanden und auf dieses Klopfen gewartet.
„Wo warst du so lang?“„Du hast geschlafen?“„Hör mal, Kleine! Ich denke, wir sollten reden.“
„Das denke ich auch.“Sie sprach mit abgewandtem Gesicht, beugte sich über ihren Koffer und spreizte mit den Fingern die Fächer aus Nylonstoff auseinander. Sie war froh, dass er gleich zur Sache kam, obwohl sie sich vor dem fürchtete, was folgen würde. „Hier oder draußen?“
Sie hatte gefunden, was sie suchte und stopfte es sich in die Jackentasche. „Stand nicht noch die Verbotene Stadt auf dem Plan?“, fragte sie. Der Magen knurrte ihr.
„Hast du gar keinen Hunger?“, fragte er, als hätte er sie längst durchschaut.
„Wir finden was unterwegs“, sagte sie. So viel wusste sie inzwischen über Beijing, dass es in den Hutongs überall zu essen gab.
Theo sah sie mit einem Ausdruck an, der ihr ins Herz schnitt. Die drei horizontalen Wellen auf seiner Stirn, der besorgte Blick, seine Lippen, die sie immer geliebt hatte.
„Sollen wir Didi Bescheid geben?“, fragte sie. „Sie sollte zumindest wissen, wo wir sind.“Immer noch war es ihre Reise. Morgen, dachte sie, sobald das Flugzeug gelandet wäre, morgen wäre sie diese Verantwortung los. Endgültig.
„Du brauchst dich nicht dauernd um Didi zu sorgen“, sagte Theo, „die kommt schon klar.“Er ging zur Tür.
Sie folgte ihm. Sein letzter Satz hatte irgendwie die Luft leichter gemacht. Beim Hinausgehen, sie wollte gerade die Tür schließen und drehte sich dazu um, sah sie auf dem kleinen Vorsprung etwas liegen, eine dünne Silberkette, daran ein Medaillon aus Glas. Sie erkannte es sofort. Angst und Zorn brandeten auf. Dann ist es wohl doch vorbei, dachte sie. In einer Seitenstraße standen Tische auf dem Gehsteig, die Leute schmausten. Rechteckige Päckchen wie aus grünem Packpapier, gefüllte Dampfnudeln, Marmoreier. Sie deuteten darauf. Sofort standen Schalen und Gläser vor ihnen. Zwei Flaschen eiskalter Cola, nackte, glänzend weiße Nudeln. Alicia mühte sich mit den Stäbchen ab, der Heißhunger wühlte in ihrem Inneren, aber die Dampfnudeln waren dick und ließen sich mit den Stäbchen nicht fassen, noch schlimmer die Eier, die beiseite glitschten, sobald sie sie zwischen zwei Stäbchen zwängen wollte.
„Mach’s dir doch nicht so schwer!“, empfahl Theo. Er nahm ein Ei in die Hand, tunkte es in die dunkle Essigsauce und biss ab.
„Nein!“, sagte sie wütend. Sie ergriff ein einzelnes Stäbchen und durchbohrte damit die weißbraune Haut des Eis. Sie biss in das aufgespießte Ei. Die Sauce lief ihr die Mundwinkel hinunter, sie wischte sie mit dem Handrücken ab.
„Alicia, kann es sein, dass ich dich durch irgendetwas verletzt habe?“
Die Chinesen um sie sahen herüber, lachten, reckten den Daumen hoch.
Wahrscheinlich war es nicht beste chinesische Sitte, seine Stäbchen einfach in die Nahrung zu bohren, die Leute um sie waren einfach freundlich, machten Komplimente, auch wenn man sich danebenbenahm. Trotzdem! Sie würde nicht anfangen mit den Händen zu essen. Theo – natürlich! – , der hatte kein Problem damit, der aß mit den Händen. Aber der küsste auch fremde Frauen, empfing sie auf sei- nem Zimmer …
„War sie bei dir? Im Hotel, meine ich?“„Wer? Didi?“
„Nein, die Muttergottes von Lourdes! Jessas – wen könnte ich wohl gemeint haben?!“„Alicia, Kleine, es ist alles …“„… ganz anders, als es aussieht?“Sie bohrte das Stäbchen in eine der nackten Dampfnudeln. „Und? Seid ihr euch einig geworden? Hast du den Posten bekommen? Als Witwentröster?“Ihr Atem ging schneller.
„Alicia“, sagte Theo. Er hatte aufgehört zu essen und legte seine Hand auf ihre. „Meine Liebste! Glaubst du wirklich, ich möchte eine andere Frau, wenn ich dich haben kann?“
„Und warum liegt dann ihr Medaillon in unserem Hotelzimmer?“
„Aber ich habe doch … Okay: Sie hat es mir vor ein paar Tagen gegeben, und – ich schwöre dir, Alicia – ich habe nicht verstanden, warum. Ich weiß nicht mal, wer auf diesem Foto abgebildet ist.“
„Sie, wer sonst? Es ist ein Kinderbild von ihr. Meinst du, Didi trägt jemand anderen um den Hals als sich selbst? Selbstverliebt, wie sie ist? Scheiße! Wieso hast du sie geküsst?“
„Hör zu, Alicia. Nein, warte … Ja, ich habe sie geküsst. Aber nur einmal. Und nur so – auf den geschlossenen Mund, siehst du?“Er rollte seine Lippen ein, bis nur noch ein Strich zu sehen war.
„Soll ich jetzt dankbar sein, weil du mit einer Trockenübung gestartet hast?“
„Das war an dem Tag nach dem Zauberdoktor. Ich weiß auch nicht, was der mit mir gemacht hat. Aber ich habe mich auf einmal so – lebendig gefühlt. Wie ein Abenteurer, ein Pirat auf seinem Schiff.“
„Piraten brauchen ihre Freiheit. Nur zu! Sobald wir zu Hause sind, stecht ihr beide in See – was hindert euch?“
„Alicia, bitte! Du hast nicht den geringsten Anlass … oder doch, okay, du hast einen Anlass, ich seh’s ein. Aber eben nur den geringsten! Außerdem – bitte lach mich nicht aus! – hatte ich an dem Abend auf einmal das Gefühl, dass ich so etwas wie eine Anweisung von oben erhalte.“
FORTSETZUNG FOLGT