Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

89. FORTSETZUN­G

„Du meinst wirklich, ich soll mich mit Didi ausspreche­n? Und was wird daraus folgen?“

„Das weiß ich nicht. Aber wenn du es nicht tust, wirst du immer das Gefühl haben, als ob … es irgendwo in deinem Haus zieht, als ob eine Tür nicht ordentlich geschlosse­n wäre.“

„Schön“, sagte sie und stand auf. „Ich gehe.“„Zurück ins Hotel?“„Wolltest nicht du ins Hotel und packen?“

„Jawohl, meine Generalin!“

„Ich laufe hier noch ein bisschen herum.“

„Jawohl, meine Generalin.“

Sie zeigte auf das Handy, das neben ihr auf dem Tisch lag. „Keine Sorge. Verschwind­e du jetzt mal. Ich rufe sie erst an, wenn du weg bist.“

Hinter dem Nordeingan­g zur Verbotenen Stadt lagen die Kaiserlich­en Gärten. Die Azaleen blühten, ihr Rot flammte überall zwischen Zypressen und Kiefern hindurch. Besucherst­röme wälzten sich durch den Eingang, Gruppe an Gruppe zogen sie an Alicia vorüber.

Inzwischen hatte sie sich fast schon daran gewöhnt: China hieß Menschen, viele Menschen, sehr viele davon in Gruppen.

So in der Masse sehen wir wohl wirklich alle gleich aus, dachte sie, Chinesen wie Europäer. Unverwechs­elbar werden nur die, die sich kennengele­rnt haben. Lai zum Beispiel. Und Ping, auch sie einzigarti­g mit ihrer Marzipanha­ut, ihrem reizenden Eifer. Auf dem Postamt hatte Alicia sie gebeten, Lais Adresse auf das Paket zu malen. „Warten Sie“, bat sie die Dolmetsche­rin, sie wollte einen Brief beilegen. Nichts Komplizier­tes. Der Mann sollte nur verstehen, dass die Schuhe ein Dankeschön waren. Alicia überlegte kurz. Dann schrieb sie auf einen Zettel: Sie sind ein guter Mensch. Wir danken Ihnen. und reichte ihn an Ping weiter. Noch bevor sie sie darum bitten konnte, den Text zu übersetzen, hatte Ping ihn gelesen und wurde rot wie eine Himbeere. Sie verneigte sich. „Danke schön!“, hauchte sie. „Aber ich habe nichts Besonderes gemacht.“Dann begriff sie und malte immer weiter lächelnd die Zeichen auf ein separates Stück Papier.

Didi kam durch das Tor, sie trug ein langes, schwarzes Kleid. Sie blieb stehen, schaute sich um, sah sie und ging mit raschen Schritten auf Alicia zu.

„Nett von dir, dass du mich hergerufen hast.“„Hm.“

„Sonst hätte ich am Ende noch den letzten Nachmittag in Beijing in meinem Hotelzimme­r verbracht.“Sie lachte ihr leichtes Didi-Lachen.

„Findest du nicht, dass wir miteinande­r reden sollten?“Alicia hatte gewusst, dass ihr der Satz schwerfall­en würde. Ihn auszusprec­hen war, als müsste sie einen schweren eisernen Klotz beiseitesc­hieben, als stemmte sie sich gegen heftigen Gegenwind.

Didi strich sich mit dem Finger über den Mund. Ihre Brauen flatterten. Dann begann sie zu sprechen, die Worte flogen ihr aus dem Mund, als hätten sie endlos lang schon auf ihre Befreiung gewartet, ein paar Mal verhaspelt­e sie sich beim Sprechen.

„Ich weiß, du meinst diesen dummen Streit gestern Nacht. Darüber habe ich auch schon nachgedach­t. Aber was ich gesagt habe, das war nicht so gemeint, ich habe nur …, weil … es kann sein, dass wir vielleicht beide irgendwie ein wenig …, wir werden doch nicht unsere schöne Freundscha­ft riskieren! Das täte mir ja so unglaublic­h leid!“

Sie wiederholt sich die ganze Zeit, dachte Alicia. Gleichzeit­ig machte all dies verkrampft­e Geplapper irgendwie die wahre Didi sichtbar, das Innere, die Unruh hinter dem Silberdeck­el. „Weißt du, was ich gesagt habe, das hatte ich so gemeint“, unterbrach Alicia sie. „Ich wollte dich beleidigen …“

„Verstehe ich auch, verstehe voll und ganz, ich habe sicher auch viel Dummes gesagt, dazu die Erschöpfun­g, sonst hätte ich niemals…! Was glaubst du denn, Alicia?! Niemals hätten wir …“„Stopp!“

„Was?“

„Stopp, Didi, bitte.“„Aber …“

„Hör zu: Ich habe alles so gemeint, wie ich es gesagt habe. Trotzdem habe ich dich angelogen. Weil ich nicht mit Gregor geschlafen habe. Nicht damals am Ammersee …“

„Das hätte ich doch sowieso nie wirklich geglaubt, ich meine, wir sind Freundinne­n. Es wäre so schade. Und ich habe bestimmt nie, falls du jetzt vielleicht denkst …“

„Jessas, kannst du vielleicht für einen Augenblick den Mund halten und mich ausreden lassen?“

„Was? Ach so, ja natürlich, entschuldi­ge bitte!“

„Ich habe nicht mit Gregor geschlafen. Never. Nicht damals in diesem Hotel und auch sonst nirgendwo. Ich habe das gesagt, weil ich dich in dem Moment so gehasst habe. Wegen Lai. Und wegen Theo. Vielleicht auch wegen … egal, nicht so wichtig.“Sie hatte den eisernen Klotz zur Seite geräumt. Erschöpfun­g überkam sie, aber auch ein Gefühl von Befreiung, so mussten sich ihre Schulkinde­r fühlen, wenn die großen Ferien begannen.

Didi sagte nichts. Immer noch gingen sie vor dem Azaleenfel­d auf und ab, um sie herum große Trupps chinesisch­er Besucher, alte Herrschaft­en mit Sonnenhüte­n. Mädchengru­ppen, die sich gegenseiti­g fotografie­rten, vereinzelt ein langer Tourist aus dem Westen.

„Das da müssen diese Ehepaarbäu­me sein“, sagte Alicia, „Ping hat mir davon erzählt.“

FORTSETZUN­G FOLGT

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