„Der schlechte Teil“
OLDENBURG/IM NORDWESTEN – Die Geschichte von Nesrin F. könnte eine dieser Erfolgsgeschichten einer jungen Frau sein, wie man sie sich besser nicht wünschen könnte. Ganz allein und ohne Deutschkenntnisse hatte sie als 28jährige Master-Absolventin ihre Heimat und ihre Familie im Mittleren Osten zurückgelassen, um im Oldenburger Land zu promovieren. Hier in der Fremde tat die ehrgeizige Naturwissenschaftlerin das, was sie ihr Leben lang schon getan hatte: Sie gab ihr Bestes. Wollte gut sein in ihrem Job, auf ihrem speziellen Fachgebiet. In Abendkursen bei der VHS lernte sie parallel Deutsch. Seit zwei Jahren hat sie inzwischen ihren Doktortitel. Doch der Respekt, der ihr gebührt – als Wissenschaftlerin, als Frau, als Mensch – den hat und hatte nicht jeder vor ihr: „Er“hat ihn nicht.
Nesrin F. (Name von der Redaktion geändert) nennt ihn im Gespräch mit der Ð nur „den Mann“. Er stammt aus demselben Land wie sie, spricht dieselbe Muttersprache. Er war hier Gastprofessor und berichtete Nesrin positiv über die Region, als sie vor der Entscheidung stand, wo sie promoviert. Auch seine Familie lebte hier. Doch nach einem Jahr an der neuen Uni dämmerte Nesrin schließlich: „Etwas ist nicht ok.“Der Professor hatte Gefühle ihr gegenüber. Gefühle, die sie nicht erwiderte. Sie sagte „Nein.“Sie ging davon aus: Er ist ein Intellektueller, ein gebildeter Mann, er müsse das verstehen, sich entsprechend verhalten.
Aber er ließ nicht von ihr ab. Sagte, er wolle seine Frau verlassen, damit Nesrin und er zusammen sein können. Ihr wurde klar: Er ist nicht der, für den man ihn hält. „Das war ein Schock für mich.“Doch sie sprach mit niemandem darüber, wollte sich auf ihre Arbeit konzentrieren.
Er bedrohte sie: Es könne ein Problem sein, wenn sie darüber spreche. Sie könne alles kaputt machen. „Er hätte sagen können, dass ich keine gute Arbeit geleistet hätte“, erklärt Nesrin. Ihre neuen Kollegen im Oldenburger Land kannten sie schließlich noch nicht. Dass sie zuverlässig gute Leistungen bringt, das glaubte sie hier in der Fremde erst mal beweisen zu müssen. Er wollte auch nicht, dass sie Deutsch lernt. Ihre Sprachkurse verschwieg sie ihm.
Nach etwa zwei Jahren ging er in sein Heimatland zurück. Nesrin war „sehr froh“.
2017 lernte Nesrin F. ihren jetzigen Freund kennen. Der Professor kehrte in jenem Sommer ins Oldenburger Land zurück. „Und da hat der schlechte Teil von der Geschichte angefangen“, berichtet Nesrin. Dass sie jetzt in einer Beziehung war, passte dem Mann offensichtlich überhaupt nicht. Er bedrohte sie per SMS und E-Mail. Er könne Säure oder Messer benutzen, schrieb er. Einmal habe sie ihn auch in der Bibliothek getroffen, erzählt Nesrin, „er hat viele schlechte Sätze gesagt. Aber ich hatte keine Zeugen.“Zudem griff er immer auf die gemeinsame Muttersprache zurück, die kein anderer verstand.
Er fing auch an, Nesrins Freund SMS zu schicken. Wollte dessen Chef sprechen. Einmal habe er sich eine Stunde lang auf dem Hausflur vor der Wohnungstür des Freundes aufgehalten. Von außen klopfte er auch an die Fensterscheiben. Als ein Nachbar ihn ansprach, was er dort mache, log er: „Ich denke, meine Kollegin ist hier, und es geht ihr nicht gut.“„Aber das ist verboten“, habe der Nachbar erwidert. „Doch doch, sie ist in einer gefährlichen Situation“, habe der Mann geantwortet. An die Adresse des Freundes war er über das Sekretariat der Forschungseinrichtung gekommen, für die Nesrin arbeitete. „Ich möchte ihr ein Geschenk machen“, habe er dort vorgegeben. Als sie noch in einer WG wohnte, fragte er ihre Mitbewohner, wo sie sei. Er verfolgte sie. Wenn sie mit ihrem Freund zu Fuß unterwegs war, schickte er ihr SMS mit Inhalten wie: „Er hat dich jetzt geküsst.“Auch Telefonate hatte er bereits belauscht.
Gemeinsam gingen Nesrin und ihr Freund zur Polizei. Übergaben ihr all die E-Mails und SMS, die er ihr geschickt hatte. Ein Beamter, der ebenfalls Nesrins Muttersprache beherrscht, übersetzte die Nachrichten. „Aber er war auch bei der Polizei“, erzählt Nesrin, „er hatte sein Handy gewechselt und sämtliche EMails gelöscht.“Die Polizei habe ihr gesagt: „Wir können nichts finden.“Er habe behauptet, sein Account sei gehackt worden, eine andere Person hätte ihr die Nachrichten geschickt.
Die Polizei riet Nesrin, sich an die Opferhilfe Weißer Ring zu wenden. Ein Familiengericht
untersagte dem Mann für sechs Monate jeglichen Kontakt mit Nesrin. Die Ereignisse setzten ihr so sehr zu, dass sie nach dem Gerichtstermin lange Zeit krank war. Zwar bekam sie in den sechs Monaten keine Nachricht mehr von ihm – allerdings stand er in dieser Zeit sowohl in Kontakt mit ihrem Vater in der Heimat als auch mit ihrer Schwester, einer Doktorandin in den USA.
Hilfe von der Polizei
Im Fachkommissariat 1 der Polizeiinspektion OldenburgStadt/Ammerland gibt es ein Team, das sich speziell mit dem Bereich Nachstellung und häusliche Gewalt befasst. Hier bekommen Opfer Beratungsstellen genannt und Ratschläge: „Wir empfehlen, dem Täter einmal die klare Ansage zu machen: ,Ich möchte das nicht!‘“, sagt Birgit Befeld. Danach sollten die Handlungen des Stalkers ignoriert werden. Wenn es zu viel wird, raten die Polizistinnen zu einem neuen Mail-Konto oder einer neuen Telefonnummer.
„Es ist besser, wenn schnell
eine Gefährderansprache durch die Polizei stattfindet, damit der Täter weiß: Wir haben ihn im Auge“, erklärt Birgit Wedekämper, die wie Befeld zu besagtem Team gehört. Außerdem rät die Polizei zur Beantragung einer einstweiligen Verfügung (auch bekannt unter den Begriffen Kontaktverbot oder Näherungsverbot) beim Familiengericht. Teilweise würden die Täter mit der Gefährderansprache erreicht – aber eben nicht immer.
Auch der Beschuldigte bekommt die Möglichkeit, angehört zu werden. „Wenn wir dann alles zusammen haben, übergeben wir den Fall der Staatsanwaltschaft“, erklärt Birgit Befeld.
1185 Verfahren wegen des Tatvorwurfs der Nachstellung waren seit dem 1. Januar 2014 bei der Staatsanwaltschaft Oldenburg anhängig, wie Pressesprecherin Nicole Nadermann mitteilt. In 51 dieser Verfahren hat die Staatsanwaltschaft eine Anklage bei Gericht erhoben, bei 73 Verfahren wurde ein Strafbefehl beantragt. Die meisten Fälle seien aber eingestellt worden, weil der Straftatbestand der Nachstellung nicht erfüllt oder eine Täterschaft nicht nachweisbar gewesen sei, so Nadermann.
Neuer Arbeitsplatz
Seit über einem Jahr arbeitet Nesrin inzwischen an einem anderen Universitätsstandort in Deutschland – leider bewarb sich in der Folge auch der Mann an ihrer neuen Wirkungsstätte. Ihre Anwältin verdeutlichte ihr: „Du musst darüber sprechen!“Das tat Nesrin. Endlich. Ihre neuen Vorgesetzten stoppten den Vertrag mit dem Mann.
Nesrin wartete auf Neuig
keiten von der Staatsanwaltschaft. Aber sie erfuhr: Das Verfahren wurde eingestellt. „Das war seltsam für mich.“Schließlich hatte sie all die Beweise auf ihrem Handy – und warum wollte der Mann an ihr jetziges Institut kommen? Wieso wurden Zeugen, wie etwa der Nachbar ihres Freundes, nicht befragt? Weshalb die Staatsanwaltschaft den Fall auf sich beruhen lässt, können Nesrin und ihr Freund nicht verstehen.
Das Perfide an Stalking ist, sagt Petra Klein von der Opferhilfe Weißer Ring, dass es so schwer einzuschätzen und die Bandbreite an Taten so groß ist. Viele sähen es daher nicht mal als Straftat. Und die Polizei könne erst dann sofort tätig werden, wenn wirklich eine Gefährdung vorliegt, jemand beispielsweise bereits gewalttätig geworden ist. „Wenn er aber nur damit droht, dem Opfer etwas anzutun, hat man wenig Handhabe.“Die Beschuldigten hätten nicht unbedingt ein Unrechtsbewusstsein: Warum sollten sie nicht um jemanden werben dürfen? Wie die Polizei hat auch Petra Klein die Erfahrung gemacht, dass es den Opfern nicht darum geht, dass der Täter bestraft wird – sie wollen einfach nur, dass es aufhört, dass der Täter sie in Ruhe lässt. Wie im Fall von Nesrin F.
In ihrem Heimatland ist der Mann eine „große Person“, wie Nesrin erzählt. „Ich weiß, dort ist alles für mich kaputt. Ein Grund dafür ist: Ich war leise“, räumt sie ein. Sie hatte geschwiegen, weil sie dachte, sie müsse irgendwann in ihr Heimatland zurück. Dort würde sie, wenn sie von den Vorfällen berichtete, gefragt werden: „Welche Kleidung hattest du denn an? Warst du geschminkt?“Kurzum: Man würde ihr unterstellen, dass sie ihn selbst zu seinem Verhalten motiviert habe. Victim blaming („Opferbeschuldigung“) nennt sich dieses Verhalten.
Nesrin möchte anonym bleiben, weil sie nicht möchte, dass Kollegen sie anders sehen. Sie will kein Mitleid. Auch kein Geld. Sondern ein gutes System und Sicherheit. „Noch jeden Tag befürchte ich, dass er hinter der Wand sein könnte, um mir Säure ins Gesicht zu kippen oder mich zu verletzen. Es bleibt schwierig, mit dieser Art von Gefühlen zu leben.“
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