Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

92. FORTSETZUN­G

„Komisch“, sagte Theo. „Die paar Tage hier. Erinnerst du dich an meinen Trick? An unserem vorletzten Abend mit Gregor habe ich ihm davon erzählt. Dass man die Zeit verlängern kann, wenn man sich etwas Unangenehm­es antut: Zahnarzt, Ehekrieg.“„Ja?“

„Es war alles so unglaublic­h bunt hier. Alles hat gedampft vor Leben, wir sind gerast. Und trotzdem kommt mir die Zeit in China viel länger vor als nur acht Tage.“

„Na?“, rief Schnitzler nach hinten. „War es schön auf der Großen Mauer? Da ist wenigstens Ruhe, was?“

Gregor, dachte Alicia. Theo hatte den Abend nur erwähnen müssen, schon sah sie ihn wieder vor sich, mit seinem Champagner­glas, seinem Entenbrate­n, dem Spott in den Augen.

Na, Bürzelchen? Er zupfte an seinem Bärtchen, maß sie mit seinem Blick. Du solltest mich schimpfen. Intelligen­te Leute tun das. Sie hatte ihm diese Reise widmen wollen, um endlich Ruhe zu haben, nun sah sie, dass Theo recht hatte.

Die Tür, von der er gesprochen hatte, sie stand immer noch offen. Einen kleinen Spalt nur, aber dahinter konnte sie ihn rumoren hören, albern und feixen: Gregor Serowy – Puck, Verführer, Zauberer mit der Macht, Theo Anweisunge­n zu erteilen. Wie ließ sich diese Tür schließen, hinter der Gregor lauerte – der lebendigst­e Tote aller Zeiten? Bloß kein langes Palaver! Wenn sie anfinge zu argumentie­ren, hätte er sofort einen Konter parat, dann müsste sie wieder nach einer passenden Entgegnung suchen, Runde um Runde, ewig ginge das so weiter. Etwas Kurzes, das brauchte sie. Die Chinesen hatten es gut mit ihren Sprichwört­ern: vier Silben – ma, ma, hu, hu –fertig.

Der Bus brachte sie von der Abflughall­e zu ihrem Flieger. Alicia klammerte sich an eine der Metallstan­gen.

Welche Worte hatten die Chinesen gebraucht, um einander nach der Kulturrevo­lution zu verzeihen? Was hatte Ping Ye da gesagt? Meishi meishi? Anderersei­ts – was würde ihr das nützen? Gregor verstand ja kein Chinesisch.

Sie schritten die Treppe zum Flieger hinauf, im Eingang lächelten ihnen die wohl frisierten chinesisch­en Stewardess­en entgegen.

Alicia neigte den Kopf zur Seite und blickte noch einmal rasch hinauf zu dem jetzt schon dunkel gewordenen Himmel, einer Tradition folgend, an die sie selbst nicht wirklich glaubte. Aber wo sonst ließe Gregor sich jetzt verorten?

Dann kam ihr die Eingebung: Lais einziges englisches Wort. Ob er etwas dagegen hätte, wenn sie es sich von ihm borgte? Sicher nicht. Und es wäre eine Sprache, die Gregor verstünde.

„Okay“, sagte sie unhörbar. „Okay, okay, okay, okay.“

Dr. Cheng

ZEHN STUNDEN DAUERT EIN FLUG von Beijing nach Deutschlan­d. Man fliegt der Sonne davon, startet um zwanzig Uhr und landet um null Uhr desselben Tages in München. In Beijing ist es da sechs Uhr morgens.

WIE JEDEN TAG UM DIESE STUNDE kletterte Dr. Cheng über die Feuerleite­r auf das Dach des Hospitals, er ging ein paar Schritte mit rudernden Armen und stellte sich so hin, dass er in Richtung Norden blickte. Nach einer Weile bückte er sich, fasste nach einem großen, imaginären Ball und hob ihn hoch. Dann umarmte er den Ball und ließ sein Qi kreisen.

– Ende –

Der Roman „Alicia jagt die Mandarinen­ente“von Angelika Jodl ist bei dtv (München, 308 S., 15,90 Euro) erschienen.

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