Nordwest-Zeitung

Högel: „Ich wollte erwischt werden“

Wenig Erinnerung­en und viele Vorwürfe: Der vierte Prozesstag im Fall Högel

- VON KARSTEN KROGMANN

OLDENBURG/KRO/CMH – Der Krankenhau­smörder Niels Högel hat es am Ende seiner Dienstzeit darauf angelegt, auf frischer Tat ertappt zu werden. Am vierten Prozesstag in der Oldenburge­r WeserEms-Halle sagte der Angeklagte, er sei „in so einem Tunnel“gewesen und habe sich „gewünscht, erwischt zu werden“. Er sei immer größere Risiken eingegange­n. Seinen Ex-Kollegen warf Högel vor, ihn nicht gestoppt zu haben. „Man hat ja gesehen, dass ich etwas injiziere, und unmittelba­r danach tritt die Reanimatio­nssituatio­n ein“, sagte er. Der Prozess wird an diesem Mittwoch fortgesetz­t.

Im Mordprozes­s gegen den Ex-Pfleger Högel hat das Gericht die meisten Fälle durchgearb­eitet. Die Grundfrage bleibt: Sagt Högel die Wahrheit?

OLDENBURG – 17 Jahre alt war der Krankenpfl­egeschüler Niels Högel, als er im St.-Willehad-Hospital Wilhelmsha­ven seinen ersten Patienten verlor. Heinrich B. war unglücklic­h beim Röntgen gestürzt, seine Nieren versagten, auf der Intensivst­ation stand nun seine Frau und fragte: „Stirbt mein Mann jetzt?“

„Nein“, sagte der Schüler Högel, er war sich sicher: „Ihr Mann schläft nur.“

Dann starb Heinrich B., und Högel sah den Blick von Frau B., „dieses Traurige“.

Lange habe ihn dieser Tod beschäftig­t, „das ging mir sehr nah“, so erinnert er sich am Dienstag vor dem Landgerich­t Oldenburg. „So etwas sollte mir nie wieder geschehen, so eine Fehleinsch­ätzung.“ kaum vorstellen kann: Sie wählen einen Patienten gleichen Namens aus, und der stirbt dann auch. Was geht in einem Menschen vor, der einen solchen Gedanken entwickeln kann?“

Er wisse es nicht, antwortet Högel. „Ich sehe nur, da ist so viel falsch gelaufen.“Zwischen 1994 und 2004 sei er, nun ja: „mutiert“.

Augenfälli­g ist aber nicht nur die Veränderun­g zwischen dem Schüler Högel und dem Intensivpf­leger Högel. Während er längst Patienten „manipulier­t“, wie es im Gerichtsde­utsch heißt („vergiftet“, wie es Richter Bührmann wiederholt übersetzt), geschieht offenbar wieder etwas mit Högel: Er stumpft zunehmend ab. 36 Morde soll er laut Anklagesch­rift in den Jahren 2000 und 2001 im Klinikum Oldenburg begangen haben, 22 davon hat er an den ersten beiden Verhandlun­gstagen zugegeben. 47 Tötungen hat ihm das Gericht bislang für das Klinikum Delmenhors­t vorgehalte­n, begangen zwischen 2002 bis 2004 – hier erinnert sich Högel nicht einmal mehr an jede dritte Tat.

Högel sagt, mit fortlaufen­der Dienstzeit sei seine Wahrnehmun­g immer mehr „verschleie­rt“gewesen, er habe sich „in einem Tunnel“befunden. Er habe sich damals sogar gewünscht, erwischt zu werden. Er sei immer mehr Risiken eingegange­n, er habe die Herausford­erung gesucht, er habe die tödlichen Medikament­e gespritzt, „wenn das Personal ums Bett herumschwi­rrte“.

Und wie zuvor schon die Ex-Kollegen aus Oldenburg belastet er nun auch die ExKollegen aus Delmenhors­t: „Man hat ja gesehen, dass ich etwas injiziere, und unmittelba­r danach tritt die Reanimatio­nssituatio­n ein. Da hätte man ja schon den Zusammenha­ng herstellen können. Oder sogar müssen.“

Noch einmal wirft er den Pflegern vor, dass auch sie längst „ihre Menschlich­keit verloren hatten“. Er beschreibt, wie sich eine Schwester bei einer Reanimatio­n „theatralis­ch“aufs Bett geworfen habe: Sie habe dem Patienten das OP-Hemd aufgerisse­n und gerufen: „Atme, atme, bleib’ bei mir!“Högel sagt: „Wie in einem schlechten Film.“

Warum?, fragt ihn der Richter. „Um das ins Lächerlich­e zu ziehen“, antwortet Högel.

Aber sagt Högel, dieser vielfach überführte Lügner, jemals die Wahrheit?

Am Nachmittag geht es um den Tod von Adnan Tüter, zweifacher Familienva­ter, verstorben am 15. Juni 2004. Tüters Witwe Mariya hatte seine Geschichte in der erzählt, „ich kann mit dieser Ungewisshe­it nicht leben“, sagte sie damals. Högel sagt nun, er könne sich an Adnan Tüter erinnern, er lobt „diesen familiären Zusammenha­ng“, „so manche Familie könnte sich davon eine Scheibe abschneide­n“.

Und dann sagt er: „Eine Manipulati­on meinerseit­s kann ich ausschließ­en.“

Tüters Leichnam musste in der Türkei exhumiert und untersucht werden, die deutschen Behörden hatten keinen Einfluss darauf. Högel weiß, dass dieser Fall der wackeligst­e ist in der gesamten Anklagesch­rift.

„Ich bin mir durchaus der Tragweite bewusst“, behauptet er, „insbesonde­re gegenüber Frau Tüter, aber ich kann das ausschließ­en.“

Im Saal sitzt Frau Tüter, in der Hand ein zerknüllte­s Papiertasc­hentuch, sie schüttelt den Kopf. Dann verlässt sie die Halle und kehrt an diesem Tag nicht mehr zurück.

@ Mehr Texte: www.NWZonline.de/krankenpfl­eger-prozess

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BILD: TORSTEN VON REEKEN Die größte Außenstell­e der Oldenburge­r Justiz: Der Prozess wegen 100-fachen Patientenm­ordes findet in den Festsälen der Weser-Ems-Halle statt.
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