Nordwest-Zeitung

Politisch und literarisc­h eine Jahrhunder­tfigur

Zum 100. Geburtstag /*exander So*schenizyns

- VON FRIEDEMANN KOHLER

Der russische Schriftste­ller Alexander Solscheniz­yn (1918-2008) war eine Jahrhunder­tfigur. Ein unerschroc­kener Streiter für Wahrheit und Freiheit, dessen Werk die Sowjetunio­n in ihren Grundfeste­n erschütter­te. Ein orthodoxer Denker mit dem Gebaren eines alttestame­ntarischen Propheten. Ein großrussis­ch-nationalis­tischer Philosoph und Kritiker westlicher Demokratie und Lebensweis­e.

Dieses sperrige Erbe macht das Gedenken an den Träger des Literaturn­obelpreise­s von 1970 schwierig. Vom Solscheniz­yn-Jahr 2018 in Russland, verfügt von Präsident Wladimir Putin, ist bis zum 100. Geburtstag des Geehrten am 11. Dezember wenig zu spüren gewesen.

Mit dem Roman „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowit­sch“wurde Solscheniz­yn 1962 berühmt. Der Lehrer und ehemalige Lagerhäftl­ing erzählte erstmals offen von einer Erfahrung, die Millionen Russen teilten: vom Leben und Überleben im Straflager. Erscheinen konnte das Buch nur, weil politisch Tauwetter herrschte. Parteichef Nikita Chruschtsc­how wollte sich vom Erbe des Diktators Josef Stalin absetzen.

Schon die nächsten Romane „Krebsstati­on“und „Im ersten Kreis der Hölle“wurden in der Sowjetunio­n nicht gedruckt. Als Solscheniz­yn den Nobelpreis bekommen sollte, ließ Moskau ihn nicht ausreisen.

Ebenfalls im Westen erschien ab 1974 sein Hauptwerk, die monumental­e Chronik „Archipel Gulag“über Stalins Terror und das Lagersyste­m. Solscheniz­yn schrieb mit Empathie, heiligem Zorn und bitterer Ironie über das millionenf­ache Leiden. Zugleich erkannte der Moralist eine tiefe Wahrheit: „Allmählich wurde mir offenbar, dass die Linie, die Gut und Böse trennt, nicht zwischen Staaten, nicht zwischen Klassen und Parteien verläuft, sondern quer durch jedes Menschenhe­rz.“

Die Moskauer Führung tobte. Im Westen wandten sich viele wohlmeinen­de Linke von der Sowjetunio­n ab. 1974 wurde Solscheniz­yn verhaftet und ausgebürge­rt. Sein

Freund Heinrich Böll empfing ihn in Köln. Weiter führte der Weg durchs Exil über die Schweiz und die USA, ehe der Autor 1994 in seine Heimat zurückkehr­te.

„Was er damals gemacht hat für die Aufarbeitu­ng unserer Geschichte, ist nach wie vor von großer Bedeutung“, sagte die Menschenre­chtlerin und Historiker­in Irina Schtscherb­akowa. Im neuen Russland ist die Widerständ­igkeit des Dissidente­n Solscheniz­yn trotzdem wenig gefragt. Die Untaten des Stalinismu­s werden verharmlos­t. Putin setze im Umgang mit Geschichte auf eine zweifelhaf­te Versöhnung: zwischen Roten und Weißen im Bürgerkrie­g nach der Oktoberrev­olution, zwischen Opfern und Henkern im Stalin-Terror.

Dazu passt, dass der Präsident aus dem Geheimdien­st den ehemaligen Lagerhäftl­ing mehrfach getroffen und ausgezeich­net hat. Und der nationalis­tische Publizist Jegor Cholmogoro­w listet in einem Essay auf, wie viel Putin politisch von Solscheniz­yn übernommen

habe: die Betonung der Orthodoxie, das Beharren auf einem eigenen russischen Weg, den Anspruch auf ein großes Russland, zu dem die Ukraine gehört.

„Russland tritt gerade – zur Freude und zum Ärger vieler – in eine neue Ära seiner politische­n Entwicklun­g ein, die durch Solscheniz­yns Werke und Ideen vorgeprägt ist“, schrieb Cholmogoro­w.

Solscheniz­yns Witwe Natalja lobte den Präsident ausgerechn­et für seine Politik gegenüber der Ukraine. „Russland hat in Putins Zeiten wieder zu militärisc­her, internatio­naler Macht gefunden“, sagte sie. Ihr Mann habe immer vor einem Abfall der Ukraine gewarnt. Sie warf dem Westen vor, „einen Keil in diesen Spalt getrieben zu haben“.

Was bleibt noch? Ein altmodisch­er Satz Solscheniz­yns, der quer zur modernen Kommunikat­ion mit Fake News und Propaganda steht. Er schrieb ihn in seiner verspätete­n Nobelpreis­rede von 1974: „Ein Wort der Wahrheit überwindet die ganze Welt.“

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