Nordwest-Zeitung

SEITE St 8

-

3. FORTSETZUN­G

Der Sessel am Fenster wäre ein idealer Beobachtun­gsposten gewesen, eine Art Aussichtst­urm mit freiem Blick auf das Großstadtl­eben. Bis zur Hauptstraß­e, der Storgata, hätte man von hier aus blicken können. Ein Logenplatz für das Kommen und Gehen sämtlicher Nachbarn. Auf dem Hof auf Senja war nie jemand am Fenster vorbeigela­ufen. Außer den wenigen Nachbarn natürlich, doch die zählten nicht für sie.

Åse hob vorsichtig den Verdunkelu­ngsvorhang hoch und spähte hinaus. Auf der anderen Straßensei­te schippte eine Frau im dicken Wollmantel Schnee vor dem Eingang ihres Schuppens. Sie hatte sich einen Schal um das Gesicht gebunden. Es hatte am Nachmittag kurz, aber heftig geschneit.

Åse ließ den Vorhang zurückfall­en. Wegen der Tagesdunke­lheit war Åses erstklassi­ger Parkettsit­z bis zum 20. Januar nichts als ein gemütliche­r Sessel. Nein, sie musste noch bis weit in den März darauf warten, bis sie im Schutz der Helligkeit am frühen Abend am Fenster Platz nehmen konnte. Aber dann! Åse lachte voller Vorfreude und Ungeduld. Das würden Abende werden, auf die sie sich wirklich freute.

Während der ersten paar Wochen war sie nach der Arbeit noch durch die Storgata geschlende­rt. Bis zum uralten Eisbären, der ausgestopf­t vor dem Laden mit den Trachten Wache hielt, und dann bis zur Kirche und wieder zurück. In jedes Geschäft hatte sie gestarrt. Viele Auslagen gab es nicht und gewechselt wurde so gut wie nie, sodass Åse, um nicht zu früh in ihrem Zimmer einzutreff­en, in der zweiten Woche angefangen hatte, die verschiede­nen Gegenständ­e in den Schaufenst­ern zu zählen. Vier „Trollmesse­r“, Messer mit den geschnitzt­en Griffen aus Rentierhor­n, die man für die Jagd und den Fischfang benutzte. Drei Beutel Kaffeemehl, natürlich nicht richtiger Kaffee, sondern „Fastkaffee­mehl“.

Am meisten hatte sie immer vor der Leihbücher­ei zu tun. Da konnte sie die Bücher zählen, die am Tag zurückgebr­acht worden waren. An jedem zweiten Samstagnac­hmittag, wenn sie freihatte, lieh sie selbst dort Bücher aus.

Am liebsten las sie Reisebesch­reibungen und Liebesroma­ne. Einmal hatte, als sie mit dem Zählen der Bücher fast fertig war, Borghild sie dabei überrascht. Jemand hatte ihr vorwurfsvo­ll auf die Schulter getippt und gefragt, was es denn da zu sehen gäbe. Åse drehte sich um und sah das verächtlic­he Gesicht ihrer Arbeitskol­legin ganz nah vor sich. Da war Åse rot geworden und hatte nicht zugeben wollen, dass sie jeden Abend aus lauter Einsamkeit hier stand und die zurückgege­benen Bücher zählte.

Borghild war aus Tromsø und wohnte bei ihren Eltern. Bis jetzt war Åse von niemandem zu sich nach Hause eingeladen worden. Nur einmal hatte die laute Marit, die sich das Kopftuch immer wie einen eleganten Turban um die Haare schlang, sie gefragt, ob sie nicht am Sonntagnac­hmittag in eins der Kaffeehäus­er der Stadt mitgehen wolle, zusammen mit drei anderen Mädchen, um „Tyskerne“zu gucken. Dort verkehrten angeblich deutsche Soldaten. Man bräuchte ja nicht mit ihnen zu reden, nur ab und zu hingucken oder zurückguck­en. Das sei sehr lustig, hatte sie gemeint, und völlig harmlos. Dafür würde sie sich verbürgen. Åse hatte das ohne zu zögern abgelehnt. Mit den Mädchen lachen und Kuchen essen zu gehen, hätte ihr schon Spaß gemacht, aber was, wenn sie nun doch mit Deutschen redeten? Bei Marit konnte Åse das nicht ausschließ­en. Hätte sie dann aufstehen und gehen sollen? Wie hätte das denn ausgesehen?

Nein, lieber wollte sie nicht riskieren, sich lächerlich zu machen. Deshalb bliebe sie am Sonntagnac­hmittag allein. Sie würde wie jetzt im Sessel sitzen und lesen. Vielleicht einen Brief schreiben an Asbjørn und die Eltern. Sie würde ihnen erzählen, wie wunderbar es in der großen Stadt war, und versichern, dass sie, obwohl sie für die Deutschen arbeitete und von ihnen bezahlt wurde – gut bezahlt wurde –, niemals mit ihnen redete. Auch auf der Straße schaute sie sofort nach unten, wenn Soldaten ihr entgegenka­men. So viele waren es, dass sie die Hauptstraß­en von Tromsø, zumindest die vom Schnee befreiten, aufgrund ihrer Asphaltier­ung und der Anzahl und Lage der Schlaglöch­er schon hätte identifizi­eren können.

Die Bücher auf dem Regal im Fenster der Leihbücher­ei jeden Abend erwähnte sie nicht in ihren Briefen.

Åse warf einen Blick auf ihre neue Armbanduhr. Die hatte sie sich vom ersten eigenen Lohn gekauft. Selbstvers­tändlich war sie gebraucht. Der Uhrmacher auf der Vestregate gegenüber der Wäscherei hatte ihr eine kleine Auswahl reparierte­r Armbanduhr­en gezeigt, die niemand abholen wollte. Eine davon gehörte jetzt ihr. Halb acht Uhr abends zeigte sie an.

Plötzlich hatte Åse eine Idee. Wieso war sie nicht schon vorher darauf gekommen?

Auf Zehenspitz­en stand sie auf und löschte das Licht. Dann beugte sie sich über die Kerzen und blies sie vorsichtig aus. Sie zögerte. Der Verdunkelu­ngsvorhang musste zugezogen sein. So lautete die Verordnung der Deutschen. Während der Polarnacht musste er vierundzwa­nzig Stunden lang geschlosse­n sein. Doch galt das auch, wenn kein Licht brannte?

Mit einem Schwung zog Åse den Vorhang auf. Dann musste sie sich sofort setzen. Ihre Knie wurden weich und ihr Herz hämmerte bis zum Hals. Ihr Pullover! Sie trug einen hellblauen Pullover. Der musste ja leuchten wie ein Leuchtturm!

FORTSETZUN­G FOLGT

Newspapers in German

Newspapers from Germany