DER PFARRER MISSBRAUCHTE, DIE GEMEINDE SCHWIEG
2–eht allein die Kirche hat sexuellen Missbrauch vertuscht, auch sonst wollte kaum jemand darüber sprechen
OLDENBURGER LAND,
Warum dauerte es oft Jahrzehnte, bis Missbrauch in der Kirche aufgedeckt wurde? Eine Recherche in Neuenkirchen, Landkreis Vechta.
NEUENKIRCHEN/VECHTA – Manchmal holte ihn der Pfarrer morgens aus dem Bett, sie wohnten ja gleich bei der Kirche. Er wartete im Kinderzimmer, bis der Junge angezogen war, dann nahm er ihn mit ins Pfarrhaus. Dort schloss er alle Fensterläden, verriegelte die beiden Türen zum Pfarrbüro, legte die Hörer seiner zwei Telefone neben die Gabel.
„Weißt du, wie man sich unkeusch anfasst?“, fragte der Pfarrer das Kind.
Albert Hauser*, 66 Jahre alt, trinkt einen Schluck Wasser. „Mann“, sagt er, er schüttelt den Kopf, „was man da erlebt hat, wenn man zu ihm kommen sollte... Ich war doch erst zehn Jahre alt!“
DAS ERSTE SCHWEIGEN
Der kleine Albert sprach nicht über das, was er im Pfarrhaus erlebte. Es ging nicht, der Pfarrer hatte ihm gedroht: „Wenn du einem davon erzählst, dann tritt der Satan zwischen uns!“Vielleicht muss man katholisch erzogen worden sein, um die Wucht dieses Satzes zu verstehen. Hauser jedenfalls rüttelt es heute noch durch, wenn er daran zurückdenkt: „Wie er das sagte: ,Der Satan‘...“Hauser zischt das S, es klingt wie bei einer Schlange.
33 Jahre lang war Bernhard Janzen, geboren 1896 in Lindern im Landkreis Cloppenburg, Pfarrer an der Bonifatiuskirche. Er starb 1972 als Ehrenbürger, ein halbes Jahr vor seinem Tod hatte der Rat der Gemeinde Neuenkirchen ihn ausgezeichnet: als Dankeschön für seine Verdienste um den Schulausbau, die Klinikgründung, den sozialen Wohnungsbau. Im halbseitigen Nachruf auf Janzen in der Kirchenzeitung heißt es: „Er hat eine schmerzliche Lücke hinterlassen. Uns bewegt das Gefühl eines tiefen Verlustes.“
Hauser war nicht Janzens einziges Opfer. Fünf ehemalige Messdiener, die Janzen missbrauchte, haben sich gemeldet, vermutlich gab es mehr Opfer. Ist es möglich, dass sich der Pfarrer jahrelang an Kindern verging, ohne dass es jemand bemerkte? Ohne dass es zu Gerede oder wenigstens zu Gerüchten kam?
Der Pfarrer gab auch Unterricht, vorwiegend schulte er die örtlichen Gymnasiasten in Latein. Ein ehemaliger Messdiener, heute 65 Jahre alt, erinnert sich, dass er und sein Bruder einmal zu früh dran waren, sie mussten sich beim Pfarrer auf den Schoß setzen. „Das waren zwei unangenehme Minuten“, sagt er heute. Bald kamen die anderen Schüler, der Spuk war vorüber, ohne das Schlimmeres geschehen konnte.
Zu Hause erzählten die Brüder ihrem Vater von dem Erlebnis. Der Vater meldete seine Söhne sofort ab als Messdiener in St. Bonifatius. Ahnte der Vater etwas? Der ehemalige Messdiener weiß es nicht, der Vater lebt nicht mehr. Er weiß aber, dass die Jungen manchmal untereinander über den Pfarrer sprachen, zum Beispiel auf dem Bolzplatz: „Zu dem geh’ lieber nicht allein“, hieß es dort.
Als Albert Hauser etwas älter war und Neuenkirchen verlassen hatte, sprach auch er über seine Erlebnisse. Er erzählte es seinem Bruder, der ebenfalls betroffen war. Er berichtete wenigen Vertrauten davon. Was sie mit den Informationen anstellten, weiß Hauser nicht; womöglich behielten sie ihr Wissen für sich.
In ihrem Nachruf dankt die Kirchenzeitung Pfarrer Janzen für „33 Jahre eines äußerst segensreichen Schaffens“; „sein priesterliches Wirken und sein Andenken werden fortleben“.
DAS ZWEITE SCHWEIGEN
Im Herbst 1994 soll die Haupt- und Realschule Neuenkirchen einen neuen Namen bekommen. Bei einer Umfrage unter Schüler, Eltern und Lehrern setzt sich der Vorschlag „Bernhard-JanzenSchule“durch, vor „Richardvon-Weizsäcker-Schule“und „Anne-Frank-Schule“.
Albert Hauser lebt inzwischen als Lehrer in Oldenburg. Ihm platzt der Kragen, als er von den Plänen in Neuenkirchen hört. „Das geht ja gar nicht!“, schimpft er. Erstmals erzählt er seinen Eltern vom Missbrauch durch Pfarrer Janzen, danach geht er zum Bürgermeister. Der Bürgermeister informiert den aktuellen Pfarrer, Helmut Middendorf.
Es geschieht: nichts. Der Gemeinderat erfährt nicht von Hausers Vorwürfen. Mit großer Mehrheit stimmen die Ratsmitglieder am 15. November 1994 dafür, die Schule nach dem toten Pfarrer zu benennen.
Pastor Middendorf ist heute 82 Jahre alt. Er ist in seine Heimat Holdorf zurückgekehrt, er lebt im Pfarrhaus neben der Kirche. Auf dem Tisch dampft die Weihnachtskerze, an der Wand hängt ein Foto von Papst Benedikt. Middendorf sagt, er habe damals versucht, mit möglichen Betroffenen ins Gespräch zu kommen. „Ich wusste nicht, wie man das bewerten soll, was die sagen. Das waren ja eher so 68er, Leute mit Distanz zur Kirche. Schaukelten die da vielleicht Hoppe-Reiter-Spiele hoch?“Janzen habe einen sehr guten Ruf gehabt, sagt Middendorf, „er galt als kinderfreundlicher Mensch“.
Albert Hauser lässt nicht locker im Herbst 1994. Er nimmt Kontakt zu anderen Opfern auf, bald sind sie zu fünft. Sie schreiben die Schulbehörde an, sie wenden sich an den Weihbischof.
Der Weihbischof, Max Georg Freiherr von Twickel, empfängt Hauser in Vechta zum Gespräch. Als er die doppelwandigen Türen schließen will, sagt Hauser: „Herr Bischof, lassen Sie bitte die Türen auf... das ist ja schon wieder wie in Neuenkirchen!“
In den Personalakten der Kirche finden sich keine Hinweise auf Verfehlungen von Pfarrer Janzen. Twickel erklärt: „Wir müssen von der Unschuldsvermutung ausgehen.“Die Kirche verfolgt die Vorwürfe nicht weiter.
Albert Hauser informiert die Presse. Als die Lokalzeitungen im Sommer 1995 über die Vorwürfe gegen Janzen berichten, beginnt endlich eine öffentliche Diskussion. Sie dreht sich aber nicht um den Missbrauch an sich.
Der Rat streitet über Politik. Warum hat der Bürgermeister sein Wissen über die Vorwürfe für sich behalten? Die kleine Opposition stellt einen Misstrauensantrag gegen den CDU-Mann (und scheitert damit). Der Bürgermeister erklärt, es habe sich um einen „diffusen und vor allem nicht nachweisbaren Vorwurf“gehandelt. Er sagt: „Für mich stellt sich die Frage, warum sich die Leute nicht gemeldet haben, als Janzen vor rund 20 Jahren Ehrenbürger der Gemeinde wurde?“
Andere Neuenkirchener rechnen in Leserbriefen mit den Opfern ab. „Sind sich die jungen Männer dessen bewusst, was sie ihrer Heimatgemeinde angetan haben?“, fragt ein Ehepaar, das nach eigenen Angaben „im Namen vieler“spricht. „Man bringt in erster Linie die Kirche in Verruf, obwohl sie nichts damit zu tun hat, von der Gemeinde ganz zu schweigen.“
Wieder andere giften die Lokalzeitung an: Über so etwas scheibt man nicht! Andreas Kathe, 62 Jahre alt, war damals stellvertretender Lokalchef der „Oldenburgischen Volkszeitung“in Vechta. Er erinnert sich an „heftige Angriffe“, „die Leute wollten das einfach nicht wahrhaben“.
Kathe schreibt einen langen Kommentar, in dem er die Neuenkirchener daran erinnert, dass nicht die Überbringer einer schlechten Nachricht die „bösen Buben“sind. Aber auch er schränkt ein: „Es geht heute nicht darum, einem längst verstorbenen Pfarrer übelzuwollen. Es geht vielmehr um die aktuelle politische Diskussion der Namensgebung einer Schule.“
Im September 1995 beschließt der Rat, den Namen „Bernhard-Janzen-Schule“zurückzuziehen. Die CDU betont, dass die Entscheidung nicht als inhaltliche Bewertung der Vorwürfe zu verstehen sei. Eine Klärung der Anschuldigungen sei nach mehr als 30 Jahren „nicht mehr möglich“und „nicht erstrebenswert“.
Albert Hauser sagt heute, er sei trotzdem zufrieden gewesen. „Mein Ziel war es, dass die Schule nicht nach ihm benannt wird. Das habe ich erreicht.“
DAS DRITTE SCHWEIGEN
Der Rat braucht nur ein paar Minuten für die Abstimmung, die Entscheidung fällt einstimmig. „Die Schule und die Gemeinde müssen endlich raus aus der unglückseligen Diskussion“, erklärt der CDUFraktionschef. Das gelingt: Nach der Ratssitzung endet die Berichterstattung, niemand spricht mehr über Pfarrer Janzen und über sexuellen Missbrauch.
Drei Autominuten nördlich der Bonifatiuskirche sitzen Karin und Klaus Brock in Neuenkirchen an ihrem Esstisch, vor ihnen liegt ein Aktenordhilfseinrichtung. ner mit Zeitungsartikeln. „Da ist ein totales Loch“, sagt Klaus Brock, 74 Jahre alt, ehemaliger Sozialarbeiter. Mit „Loch“meint er die Zeit von September 1995 bis 2010.
Pastor Middendorf würde die Brocks möglicherweise mit „68er“beschreiben: zugezogen in den 70ern aus der Großstadt, evangelisch, Gründer einer alternativen Kindergruppe im katholischen Neuenkirchen. „Das war wohl ein bisschen suspekt“, sagt Klaus Brock, er schmunzelt.
Von den Missbrauchsvorwürfen erfuhren die Brocks 1995 aus der Zeitung. „In unserem Bekanntenkreis reagierten die Leute verärgert“, erinnert sich Karin Brock, 74 Jahre alt. „Aber ansonsten wurde das Thema unterdrückt“, sagt ihr Mann. Nach gut 40 Jahren in Neuenkirchen weiß er, dass „Ordnung“hier ein hohes Gut ist. Die Missbrauchsvorwürfe hätten die Ordnung erschüttert, „da setzte Abwehr ein“.
2010 geriet plötzlich die ganze Katholische Kirche in Unordnung, als zuerst der jahrelange sexuelle Missbrauch von Kindern am Berliner Canisius-Kolleg öffentlich wurde und in der Folge immer neue Missbrauchsvorwürfe gegen Kirchenmitarbeiter laut wurden. Und in Neuenkirchen fiel dem Ehepaar Brock bei einem Spaziergang auf, dass eine kleine Straße immer noch den Namen „Pastor-Janzen-Weg“trug. Der Weg führt ausgerechnet zu einer Kinder- In einem Leserbrief an die Zeitung erinnern die Brocks an die 15 Jahre alten Missbrauchsvorwürfe und fordern die Umbenennung der Straße.
Der Leserbrief führt dazu, dass das Bischöfliche Offizialat 38 Jahre nach dem Tod von Pfarrer Janzen die Missbrauchsvorwürfe offiziell prüfen lässt, die „Kommission für Fälle sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen“übernimmt den Fall. Zeugen werden gesucht, gefunden und gehört; auch Albert Hauser sagt aus.
Im Juni 2010 legt die Kommission ihren Bericht vor. „Es kann mit moralischer Gewissheit festgestellt werden, dass Pfr. Bernhard Janzen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sexuell missbraucht hat“, heißt es darin. Die Opfer seien zwischen 10 und 19 Jahre alt gewesen und in den Jahren 1955 und 1970 missbraucht worden. Es gebe „keinen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Opfer“.
Der Neuenkirchener Gemeinderat benennt den „Pastor-Janzen-Weg“um. Die Politik diskutiert auch über Janzens Ehrenbürgerschaft und stellt erleichtert fest, dass die Auszeichnung mit Janzens Tod erloschen ist. Danach ist wieder Schweigen.
Auf der Internetseite der Kirchengemeinde sind alle 39 bekannten Neuenkirchener Pfarrer seit 1384 aufgelistet. Bei einigen steht hinter dem Namen ein Zusatz, „unschuldig als Zauberer verbrannt“oder „vertrieben“. Bei Janzen steht nur: „1938-1972: Pfr. Bernhard Janzen“.
Albert Hauser sagt, er habe eine lange Therapie hinter sich. „Mein ganzes Leben ist durch diese Geschichte in Unordnung geraten“, sagt er. „Aber es ist auch vieles gut gelaufen.“Aus der Kirche ist er längst ausgetreten.
Das Bistum hat ihm ein paar Tausend Euro als Entschädigung gezahlt. Hauser gab das Geld schnell an eine bedürftige Familie weiter, „ich wollte das nicht haben“.
* Name geändert