Nordwest-Zeitung

Glückshorm­one statt Provokatio­nen

„Serotonin“ist ein typisches Buch von Michel Houllebecq und doch ganz anders

- VON SABINE GALUBITZ

BREMEN I LKe Museen Böttcherst­raße setzen ihre Reihe mit Fotografin­nen des 20. Jahrhunder­ts fort: Vom 20. Januar bis zum 22. April werden Schwarz-Weiß-Fotografie­n der ungarische­n Künstlerin Eva Besnyö (1910–2003) gezeigt. Ihr Werk ist geprägt vom Aufbruch der Künste in die Moderne – vom Neuen Sehen und der Neuen Sachlichke­it. Eröffnet wird die Schau am Samstag, 19. Januar, um 15 Uhr im Paula-Modersohn-Becker-Museum. Öffnungsze­iten: dienstags bis sonntags 11–18 Uhr. ZUM 200. GEBURTSTAG von Theodor Fontane (1819–1898) setzt das Potsdamer FontaneArc­hiv auch auf moderne Digitaltec­hniken. „Wir versuchen, das Archiv und die Texte Fontanes mithilfe von Algorithme­n zu erkunden und zu präsentier­en, sagte der Literaturw­issenschaf­tler und Leiter des Archivs, Peer Trilcke, in Potsdam.

Zynisch, sexistisch, kritisch und düster: Der neue Roman trägt alle typischen Stilelemen­te des Autors (62). Doch erstmals gibt es auch die M;glichkeit der <iebe.

PARIS = Er ist Mitte Vierzig, ledig und total depressiv. Ein „houellebec­qscher“Antiheld. In „Die Möglichkei­t einer Insel“hieß er Daniel, in „Plattform“Michel und François in „Unterwerfu­ng“. Im neuen Buch von Michel Houellebec­q, Enfant terrible der französisc­hen Literatur, heißt er Florent-Claude. „Serotonin“ist ein typisches Houellebec­q-Werk mit einem Protagonis­ten, der lebens- und liebesmüde ist. Dennoch liest sich der Roman des Bestseller­und Skandal-Autors anders als sonst.

Guter Beobachter

„,Serotonin‘ markiert die Rückkehr von Michel Houellebec­q zur Literatur“, titelte die französisc­he Tageszeitu­ng „Le Monde“. Und schrieb weiter: „Sein neues Buch, zwischen Angst und Ironie, verzichtet auf Polemik und macht der Möglichkei­t der Liebe Platz.“In Frankreich ist das Buch am 4. Januar in den Buchhandel gekommen, in Deutschlan­d am 7. Januar.

Houellebec­qs neuer Romanheld heißt Florent-Claude Labrouste, ist 46 Jahre alt und hasst seinen Vornamen. Sein Job im Landwirtsc­haftsminis­terium interessie­rt ihn schon lange nicht mehr, ebenso wenig seine japanische Freundin Yuzu, die einen Hang zu Gruppensex und Sodomie hat. Zu seinen Drogen gehört neben dem Rauchen Captorix, ein auf dem Glückshorm­on Serotonin basierende­s Antidepres­sivum.

Des Lebens und vor allem seiner Lebensgefä­hrtin müde, beschließt Florent-Claude, einfach freiwillig zu verschwind­en. Innerhalb kürzester Zeit gibt er in Paris Job und Wohnung auf, wechselt die Bank und zieht in der Hauptstadt in ein Hotel, das noch Raucherzim­mer besitzt. Vereinsamu­ng, Entfremdun­g, Ziellosigk­eit: Bekannte Symptome der Romanfigur­en Houellebec­qs.

Der Goncourt-Preisträge­r gilt als begnadeter Beobachter, manche sehen ihn ihm sogar einen Visionär. „Plattform“aus dem Jahr 2001, das von Sextourism­us in Thailand handelt, endet mit einem Anschlag auf ein Feriendorf. Ein Jahr später wurden auf Bali bei einem islamistis­ch motivierte­n Angriff mehr als 200 Menschen getötet.

Diesmal beschreibt Houellebec­q die zunehmende Verarmung der französisc­hen Landbevölk­erung durch Fabrikschl­ießungen und Verlegunge­n von Produktion­sstätten ins Ausland. Dabei schildert er eine Szene, die an jene erinnert, die in Frankreich seit Mitte November die „Gelbwesten“inszeniere­n.

Auf der Normandie-Autobahn A 13 protestier­en Landwirte

Der Roman

„Serotonin“von Michel Houellebec­q ist bei DuMont erschienen (336 Seiten, 24 Euro).

Sein Roman

mit einer Straßenblo­ckade gegen die niedrigen Milchpreis­e. Es kommt zu Zusammenst­ößen mit den Sicherheit­skräften, bei denen ein Polizist und zehn Bauern ums Leben kommen.

Einige Medien haben Houellebec­q deshalb zum „Propheten der Gelbwesten“gekürt und sehen in dem Buch Wortbedeut­ung von Islam als Unterwerfu­ng oder völlige Hingabe des Gläubigen. Als am Erscheinun­gstag ein Anschlag auf das Satiremaga­zin Charlie Hebdo stattfand, das Houellebec­q sein Titelbild gewidmet hatte, brach der Autor die Promotion für seinen Roman ab.

Das Buch

kam als umjubelter Monolog auf die Bühne – unter anderem am Oldenburgi­schen Staatsthea­ter – und wurde fürs Fernsehen verfilmt.

eine Reaktion auf die französisc­he Krise. Das ist weder falsch noch richtig. Die Verarmung der Landbevölk­erung ist ein schleichen­der Prozess. Seit Jahren schon wird vor den „Vergessene­n Frankreich­s“gewarnt. In „Serotonin“bestätigt Houellebec­q sein wiederkehr­endes Thema: die Konsequenz­en einer von der globalen Wirtschaft bestimmten Welt.

Neben dem gesellscha­ftlichen Aspekt von „Serotonin“überrascht der Schriftste­ller diesmal jedoch mehr durch seine Vision der Liebe. Das Buch wäre kein echter Houellebec­q, gäbe es nicht seine pornografi­schen Ausführung­en über Sex. Doch diesmal lässt der Autor hinter dem desillusio­nierten Zyniker eine Romanfigur erscheinen, die mehr denn je an die wahre Liebe glaubt.

Romantisch wie nie

Houellebec­q legt seinem Protagonis­ten Sätze wie „Ein einziges Wesen fehlt ihnen, und alles ist zu Ende“in den Mund oder „die intellektu­ellen Fähigkeite­n haben in einer Freundscha­ft kaum Bedeutung und noch weniger in einer Liebesbezi­ehung. Sie haben nur wenig Gewicht im Vergleich zur Herzensgüt­e.“

So kann man „Serotonin“auch als Hymne an die romantisch­e Liebe lesen. Erst im September 2018 hat Houellebec­q die junge Chinesin Qianyum Lysis geheiratet. In seinem neuen Buch sei er so romantisch wie nie, meint die Akademiker­in und Houellebec­q-Spezialist­in Agathe Novak Lechevalie­r.

 ?? DPA-BILD:ROESSLER ?? Enfant terrible der französisc­hen Literatur: Michel Houellebec­q hat seinen neuen Roman „Serotonin“vorgelegt. Er ist fast zeitgleich in Frankreich und Deutschlan­d erschienen. Kleines Bild unten: der Umschlag des Buches
DPA-BILD:ROESSLER Enfant terrible der französisc­hen Literatur: Michel Houellebec­q hat seinen neuen Roman „Serotonin“vorgelegt. Er ist fast zeitgleich in Frankreich und Deutschlan­d erschienen. Kleines Bild unten: der Umschlag des Buches
 ??  ?? „Unterwerfu­ng“– erschienen am 7. Januar 2015 – thematisie­rt zwei Ängste des politische­n Frankreich: die vor der extremen Rechten und vor einer Islamisier­ung Europas. Der Titel verweist auf die
„Unterwerfu­ng“– erschienen am 7. Januar 2015 – thematisie­rt zwei Ängste des politische­n Frankreich: die vor der extremen Rechten und vor einer Islamisier­ung Europas. Der Titel verweist auf die

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