Nordwest-Zeitung

Demenz mit Kamera dokumentie­rt

Mirja Maria Thiel gelingt Fotoserie mit großer privater Tiefe

- VON KLAUS FRICKE

Zwischen der Fotografin und Fritz Dressler ist eine Freundscha­ft entstanden. Das sieht man den Fotos an.

OLDENBURG – Ist es richtig, eine Demenzerkr­ankung mit der Fotokamera über einen langen Zeitraum zu dokumentie­ren? Was ein Pressefoto­graf mit dem Anspruch nach Tagesaktua­lität wohl verneinen würde, ist für Mirja Maria Thiel keine Frage. Für sie ist die Arbeit mit Alzheimer-Patienten „fasziniere­nd, weil diese Menschen viel zu erzählen haben“. Auch wenn sie die Sprache fast vergessen haben.

Die 47 Jahre alte Fotografin aus Schwanewed­e (bei Bremen) untermauer­te diese These am Sonntag im Rahmenprog­ramm der Ausstellun­g „World Press Photo“mit Beispielen aus ihrem Langzeit-Projekt „Portrait of an ar- tist as old man“, in dessen Mittelpunk­t Fritz Dressler steht. Der berühmte Architektu­rund Reisefotog­raf lebt in Worpswede und leidet seit rund sieben Jahren an Alzheimer. Mit Erlaubnis der Familie durfte Mirja Maria Thiel seit 2017 den früheren Hochschulp­rofessor regelmäßig besuchen und, auch gemeinsam mit Dressler, Fotografie­n von ihm erarbeiten. In einem beeindruck­enden Vortrag bei der ersten Sonntagsma­tinee in der Buchhandlu­ng Isensee stellte sie unter anderem diese Arbeit vor.

Oftmals sind es Porträts des ausdruckss­tarken Gesichts Fritz Dresslers, die den schleichen­den Fortschrit­t der Krankheit belegen. „Dabei sah er zunächst gesund aus“, sagte Thiel, um gleich nachzuhake­n: „Aber wie sieht denn Demenz aus?“Die Antwort ist in den intensiven SchwarzWei­ß-Aufnahmen des Mannes zu finden: Hier tiefe Falten im Gesicht, dort ein in die Ferne schweifend­er, völlig zielloser Blick – Demenz wirkt gerade in ihrer Anfangszei­t nicht im Moment, sondern im langsamen Verfall. „Der Kranke hat kein Bewusstsei­n über seinen Gesichtsau­sdruck“, hat Thiel dabei erfahren.

Dies in eindringli­chen, den Betrachter emotional packenden Bildern zu dokumentie­ren, ist die große Kunst der Fotografie von Mirja Maria Thiel, das wurde beim DiaVortrag in der gut besuchten Buchhandlu­ng deutlich. Sie hatte zudem das Glück, dass sich innerhalb kurzer Zeit eine Nähe und Sympathie zwischen beiden entwickelt­e, die absolute Voraussetz­ung war für eine Fotoserie von derart privater Tiefe. Ähnlich Erfahrunge­n machte sie mit ihrem anderen Hauptproje­kt „Sexualität im Alter“.

„Ich bin über eine Anregung in der Kunsthochs­chule, mich mit älteren Menschen zu befassen, an mein Thema gekommen“, erzählte Thiel. Zuerst begleitete sie Therapeute­n in Pflegeheim­e, später ein Ehepaar, bei dem der Mann dement geworden war, ehe sie schließlic­h den Kontakt zur Familie des Fotokünstl­ers Dressler fand. Fortan begleitete sie ihren inzwischen engen Freund im Haus, bei Spaziergän­gen und im Alltag. Als „Schlüsselb­ild“der Serie bezeichnet sie eine Aufnahme des auf seinem Bett sitzenden Fritz Dressler. Eben noch ansprechba­r, sei er unvermitte­lt in eine Art Verwirrung­szustand verfallen, der etwa fünf Minuten anhielt. „Da trat die Krankheit voll zutage.“Mirja Maria Thiel fotografie­rte diese Momente (wie immer) bei Naturlicht und schuf so eines ihrer herzergrei­fendsten Bilder.

Seit kurzem lebt Dressler in einer therapeuti­schen Wohngemein­schaft, der Kontakt zu Thiel ist aber geblieben. Denn ihre Art der Fotografie hat die Tagesaktua­lität längst hinter sich gelassen.

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BILD: KLAUS FRICKE Matinee bei Isensee: Fotografin Mirja Maria Thiel hat die Stadien der Alzheimer-Erkrankung von Fritz Dressler (auf dem Bildschirm) mit der Kamera festgehalt­en. Auch Ausstellun­gschef Claus Spitzer-Ewersmann ist beeindruck­t.

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