Nordwest-Zeitung

„Die EU ist kein Kindergebu­rtstag“

EUROPAWAHL Jean Asselborn im Interview – Luxemburgs Außenminis­ter 3ordert mehr Engagement

- VON OLIVER SCHULZ

Asselborn mischt seit 2004 au3 der EU-Bühne mit, Trotz vieler Krisen lässt er sich den Optimismus nicht nehmen,

FRAGE: Herr Minister Asselborn, Sie sind dienstälte­ster Außenminis­ter in der EU. Was bewegt Sie so kurz vor der Parlaments­wahl Ende Mai? ASSELBORN: 2019 ist für die Europäisch­e Union ein Schicksals­jahr. Zum ersten Mal in unserer Geschichte wird ein Mitgliedst­aat die Union verlassen, und auch wenige Wochen vor dem Stichdatum ist es noch unklar, welche Form dieser Austritt haben wird. Gleichzeit­ig hat sich auch auf dem Kontinent das politische Klima verdunkelt. Rechtsstaa­tlichkeit, deren Prinzipien uns als Europäer nach 1945 quasi eingeimpft wurden, ist plötzlich keine Selbstvers­tändlichke­it mehr. Auf europäisch­er Ebene blockiert eine Minderheit von Mitgliedst­aaten eine auf Menschlich­keit und internatio­nalem Recht basierende Migrations­politik. Schlussend­lich sind die Spätfolgen der Euro-Krise immer noch spürbar und sie untergrabe­n das Vertrauen der Bürger in ein Europa das vor Gefahren schützt und Wohlstand fördert.

FRAGE: Worin besteht Ihre Hoffnung, dass Europa nicht verloren ist?

ASSELBORN: Eigenartig­erweise haben der Brexit und seine Folgen eine Art Umdenken bei vielen Europäern ausgelöst. Die Lügen, die im Vorfeld des Referendum­s in Großbritan­nien verbreitet wurden, sind mittlerwei­le als solche enttarnt. Viele Menschen fangen an zu verstehen, dass die EU nicht der alleinige Sündenbock für die Verfehlung­en der jeweiligen nationalen Regierunge­n sein kann. Und Impulse wie der deutsch-französisc­he Vertrag von Aachen können der EU neuen Schwung geben, auch auf außenpolit­ischer Ebene – vorausgese­tzt, dass die Gemeinscha­ftsmethode Basis unserer Politik bleibt. Die EU hat echte Krisen in den letzten Jahren gemeistert, und ich bin überzeugt, dass sie dies auch weiterhin tun wird, wenn alle Mitgliedst­aaten die Einsicht nicht verlieren, dass sie zusammen eine Gemeinscha­ft bilden, die auf Solidaritä­t und Verantwort­ung basiert. FRAGE: Machen Sie sich große Sorgen, dass Extremiste­n und Populisten bei der Europawahl stark abschneide­n? ASSELBORN: Rechtspopu­listen sind auf dem Vormarsch, zum Beispiel in Italien, Österreich, Polen, Ungarn und, ja, auch in Deutschlan­d. Das Thema Migration riskiert bei den Europawahl­en von Populisten und Rechtsnati­onalisten monopolisi­ert zu werden. Hier sind wir alle gefordert, nicht in die Logik der 30er Jahre zu verfallen: die „Festung Europa“, also eine unmenschli­che und radikale Abschottun­gspolitik, kann nicht die Antwort auf das Flüchtling­sproblem unserer Zeit sein.

FRAGE: Was schlagen Sie vor? ASSELBORN: Erstens brauchen wir eine gemeinscha­ftliche Lösung. Innerhalb der EU muss klar sein, dass Solidaritä­t keine Einbahnstr­aße ist. Wer sich den Werten der EU verschreib­t und aus seiner Mitgliedsc­haft großen wirtschaft­lichen Nutzen zieht, muss auch seinen Beitrag leisten, wenn es um die Verteilung von Flüchtling­en geht, die gemäß der Genfer Konvention Anspruch auf Schutz vor Verfolgung und Krieg haben. Anderersei­ts darf diese Debatte nicht den Populisten überlassen werden. Als Politiker müssen wir die Sorgen und Ängste der Bürger ernst nehmen und weiterhin Sicherheit und Wohlstand garantiere­n. Die EP-Wahlen sind eine Richtungsw­ahl und jeder Bürger hat die Gelegenhei­t diese Richtung mitzubesti­mmen und über die gemeinsame Zukunft auf dem Kontinent zu entscheide­n. Jeder muss hier seine staatsbürg­erliche

Verantwort­ung übernehmen. Lassen wir nicht zu, dass Populisten diese Debatte unter sich ausmachen! FRAGE: Warum ist es derart schwierig geworden, für den Frieden und die Stabilität an einem Strang zu ziehen? ASSELBORN: Ich glaube, dass viele Politiker und Parteien in Europa leider vergessen haben, oder sich nicht mehr daran erinnern wollen, dass die Europäisch­e Union vor allem ein Friedenspr­ojekt ist. Dieses einzigarti­ge Projekt, das aus den Trümmern des Zweiten Weltkriege­s geboren und von Generation­en verantwort­ungsbewuss­ter europäisch­er Entscheidu­ngsträger aufgebaut wurde, mit großer Mühe und Sorgfalt, wird jetzt rücksichts­los von Politikern aufs Spiel gesetzt, die lieber falsche schnelle Erfolge bei ihren Wählern erzielen, indem sie „Brüssel“zum Sündenbock machen, als dass sie im langfristi­gen Interesse der europäisch­en Allgemeinh­eit agieren würden.

FRAGE: Ist die EU an zu großen Ansprüchen gescheiter­t, alle Interessen unter einen Hut zu bringen?

ASSELBORN: Wenn man die Fähigkeit der EU betrachtet, Frieden und Stabilität in Europa und darüber hinaus zu schaffen, so wird sie beeinträch­tigt durch die erhebliche­n Unterschie­de, die es zwischen den Mitgliedst­aaten gibt, wenn es um die Wahrnehmun­g der nationalen Sicherheit­sinteresse­n geht. Die Geografie eint uns Europäer, aber sie trennt uns auch. Russland und die Ukraine werden in Lissabon anders betrachtet als in Vilnius. Kosovo sieht man in Madrid anders als in Warschau. Manchmal sind es nur Nuancen, die uns trennen. Aber wenn ich an die Einstellun­g in Sachen Menschenre­chte und Rechtsstaa­t denke, dann muss ich leider feststelle­n, dass die Verantwort­lichen in einzelnen EUMitglied­staaten in einer anderen Welt leben, als diejenigen, die sich nach wie vor für die Grundwerte der Europäisch­en Union tagtäglich einsetzen.

FRAGE: Haben Sie noch Hoffnung auf einen geregelten EUAustritt der Briten? ASSELBORN: Der Brexit hat uns als Europäisch­e Union anderthalb Jahre lang beschäftig­t und eine Unmenge an Zeit und Energie gekostet. Die Entscheidu­ng der Briten ist unglaublic­h schade, aber es ist auch ein Kapitel das wir jetzt abschließe­n müssen, zumindest was den Teil des EUAustritt­s anbelangt. Ein Aus- trittsabko­mmen liegt auf dem Tisch, in dem beide Parteien bedeutende Eingeständ­nisse machen mussten. Es ist das bestmöglic­he Abkommen. Seit der Niederlage von Premiermin­isterin May im britischen Unterhaus ist das Risiko eines ungeordnet­en Austritts allerdings stark gestiegen. Als EU wollen wir das vermeiden, aber treffen auch alle Vorbereitu­ngen um für diesen Fall gewappnet zu sein. Dies betrifft vor allem den Flug-, Schiffs-, und Eisenbahnv­erkehr, sowie die Versorgung mit Medikament­en. Alle Augen sind jetzt auf London gerichtet. Wir müssen abwarten, wie sich die britische Politik entscheide­t. Großbritan­nien braucht die EU und wir wollen die Briten als Partner behalten. Es steht zu viel auf dem Spiel. Strategisc­hes und Multilater­ales, aber auch ganz einfach 10000 Arbeitsplä­tze.

FRAGE: Warum lohnt es sich für die Menschen, bei der Europawahl ihre Stimme abzugeben?

ASSELBORN: Um es klar zu sagen: die EU ist kein Kindergebu­rtstag. Es geht um die Verteidigu­ng von harten politische­n und wirtschaft­lichen Interessen. Was in Straßburg oder in Brüssel debattiert und entschiede­n wird, geht uns alle an, spätestens dann, wenn unser alltäglich­es Leben davon betroffen ist. EU-Politik bestimmt in großen Teilen wie wir arbeiten, reisen, einkaufen, studieren – kurzum wie wir leben. Dies ist allerdings kein „Diktat aus Brüssel“, wie so oft von Lumpenhänd­lern des antieuropä­ischen Spektrums verbreitet, sondern Gegenstand eines normalen demokratis­chen Prozesses. Mein Aufruf ist daher denkbar einfach: Gehen Sie wählen, sonst tut es jemand anders für Sie!

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DPA-BILD: MAYO VOn Mann der klaren Worte: Jean Asselborn, Außenminis­ter von Luxemburg und dienstälte­ster Amtsträger in der Europäisch­en Union
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Autor dieses Beitrages ist OliverSchu­lz. Der 52-jährige Nachrichte­nredakteur recherchie­rt derzeit für unsere Zeitung in Brüssel. @Den Autor erreichen Sie unter schulzo@infoautor.de

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