„Die EU ist kein Kindergeburtstag“
EUROPAWAHL Jean Asselborn im Interview – Luxemburgs Außenminister 3ordert mehr Engagement
Asselborn mischt seit 2004 au3 der EU-Bühne mit, Trotz vieler Krisen lässt er sich den Optimismus nicht nehmen,
FRAGE: Herr Minister Asselborn, Sie sind dienstältester Außenminister in der EU. Was bewegt Sie so kurz vor der Parlamentswahl Ende Mai? ASSELBORN: 2019 ist für die Europäische Union ein Schicksalsjahr. Zum ersten Mal in unserer Geschichte wird ein Mitgliedstaat die Union verlassen, und auch wenige Wochen vor dem Stichdatum ist es noch unklar, welche Form dieser Austritt haben wird. Gleichzeitig hat sich auch auf dem Kontinent das politische Klima verdunkelt. Rechtsstaatlichkeit, deren Prinzipien uns als Europäer nach 1945 quasi eingeimpft wurden, ist plötzlich keine Selbstverständlichkeit mehr. Auf europäischer Ebene blockiert eine Minderheit von Mitgliedstaaten eine auf Menschlichkeit und internationalem Recht basierende Migrationspolitik. Schlussendlich sind die Spätfolgen der Euro-Krise immer noch spürbar und sie untergraben das Vertrauen der Bürger in ein Europa das vor Gefahren schützt und Wohlstand fördert.
FRAGE: Worin besteht Ihre Hoffnung, dass Europa nicht verloren ist?
ASSELBORN: Eigenartigerweise haben der Brexit und seine Folgen eine Art Umdenken bei vielen Europäern ausgelöst. Die Lügen, die im Vorfeld des Referendums in Großbritannien verbreitet wurden, sind mittlerweile als solche enttarnt. Viele Menschen fangen an zu verstehen, dass die EU nicht der alleinige Sündenbock für die Verfehlungen der jeweiligen nationalen Regierungen sein kann. Und Impulse wie der deutsch-französische Vertrag von Aachen können der EU neuen Schwung geben, auch auf außenpolitischer Ebene – vorausgesetzt, dass die Gemeinschaftsmethode Basis unserer Politik bleibt. Die EU hat echte Krisen in den letzten Jahren gemeistert, und ich bin überzeugt, dass sie dies auch weiterhin tun wird, wenn alle Mitgliedstaaten die Einsicht nicht verlieren, dass sie zusammen eine Gemeinschaft bilden, die auf Solidarität und Verantwortung basiert. FRAGE: Machen Sie sich große Sorgen, dass Extremisten und Populisten bei der Europawahl stark abschneiden? ASSELBORN: Rechtspopulisten sind auf dem Vormarsch, zum Beispiel in Italien, Österreich, Polen, Ungarn und, ja, auch in Deutschland. Das Thema Migration riskiert bei den Europawahlen von Populisten und Rechtsnationalisten monopolisiert zu werden. Hier sind wir alle gefordert, nicht in die Logik der 30er Jahre zu verfallen: die „Festung Europa“, also eine unmenschliche und radikale Abschottungspolitik, kann nicht die Antwort auf das Flüchtlingsproblem unserer Zeit sein.
FRAGE: Was schlagen Sie vor? ASSELBORN: Erstens brauchen wir eine gemeinschaftliche Lösung. Innerhalb der EU muss klar sein, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist. Wer sich den Werten der EU verschreibt und aus seiner Mitgliedschaft großen wirtschaftlichen Nutzen zieht, muss auch seinen Beitrag leisten, wenn es um die Verteilung von Flüchtlingen geht, die gemäß der Genfer Konvention Anspruch auf Schutz vor Verfolgung und Krieg haben. Andererseits darf diese Debatte nicht den Populisten überlassen werden. Als Politiker müssen wir die Sorgen und Ängste der Bürger ernst nehmen und weiterhin Sicherheit und Wohlstand garantieren. Die EP-Wahlen sind eine Richtungswahl und jeder Bürger hat die Gelegenheit diese Richtung mitzubestimmen und über die gemeinsame Zukunft auf dem Kontinent zu entscheiden. Jeder muss hier seine staatsbürgerliche
Verantwortung übernehmen. Lassen wir nicht zu, dass Populisten diese Debatte unter sich ausmachen! FRAGE: Warum ist es derart schwierig geworden, für den Frieden und die Stabilität an einem Strang zu ziehen? ASSELBORN: Ich glaube, dass viele Politiker und Parteien in Europa leider vergessen haben, oder sich nicht mehr daran erinnern wollen, dass die Europäische Union vor allem ein Friedensprojekt ist. Dieses einzigartige Projekt, das aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges geboren und von Generationen verantwortungsbewusster europäischer Entscheidungsträger aufgebaut wurde, mit großer Mühe und Sorgfalt, wird jetzt rücksichtslos von Politikern aufs Spiel gesetzt, die lieber falsche schnelle Erfolge bei ihren Wählern erzielen, indem sie „Brüssel“zum Sündenbock machen, als dass sie im langfristigen Interesse der europäischen Allgemeinheit agieren würden.
FRAGE: Ist die EU an zu großen Ansprüchen gescheitert, alle Interessen unter einen Hut zu bringen?
ASSELBORN: Wenn man die Fähigkeit der EU betrachtet, Frieden und Stabilität in Europa und darüber hinaus zu schaffen, so wird sie beeinträchtigt durch die erheblichen Unterschiede, die es zwischen den Mitgliedstaaten gibt, wenn es um die Wahrnehmung der nationalen Sicherheitsinteressen geht. Die Geografie eint uns Europäer, aber sie trennt uns auch. Russland und die Ukraine werden in Lissabon anders betrachtet als in Vilnius. Kosovo sieht man in Madrid anders als in Warschau. Manchmal sind es nur Nuancen, die uns trennen. Aber wenn ich an die Einstellung in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaat denke, dann muss ich leider feststellen, dass die Verantwortlichen in einzelnen EUMitgliedstaaten in einer anderen Welt leben, als diejenigen, die sich nach wie vor für die Grundwerte der Europäischen Union tagtäglich einsetzen.
FRAGE: Haben Sie noch Hoffnung auf einen geregelten EUAustritt der Briten? ASSELBORN: Der Brexit hat uns als Europäische Union anderthalb Jahre lang beschäftigt und eine Unmenge an Zeit und Energie gekostet. Die Entscheidung der Briten ist unglaublich schade, aber es ist auch ein Kapitel das wir jetzt abschließen müssen, zumindest was den Teil des EUAustritts anbelangt. Ein Aus- trittsabkommen liegt auf dem Tisch, in dem beide Parteien bedeutende Eingeständnisse machen mussten. Es ist das bestmögliche Abkommen. Seit der Niederlage von Premierministerin May im britischen Unterhaus ist das Risiko eines ungeordneten Austritts allerdings stark gestiegen. Als EU wollen wir das vermeiden, aber treffen auch alle Vorbereitungen um für diesen Fall gewappnet zu sein. Dies betrifft vor allem den Flug-, Schiffs-, und Eisenbahnverkehr, sowie die Versorgung mit Medikamenten. Alle Augen sind jetzt auf London gerichtet. Wir müssen abwarten, wie sich die britische Politik entscheidet. Großbritannien braucht die EU und wir wollen die Briten als Partner behalten. Es steht zu viel auf dem Spiel. Strategisches und Multilaterales, aber auch ganz einfach 10000 Arbeitsplätze.
FRAGE: Warum lohnt es sich für die Menschen, bei der Europawahl ihre Stimme abzugeben?
ASSELBORN: Um es klar zu sagen: die EU ist kein Kindergeburtstag. Es geht um die Verteidigung von harten politischen und wirtschaftlichen Interessen. Was in Straßburg oder in Brüssel debattiert und entschieden wird, geht uns alle an, spätestens dann, wenn unser alltägliches Leben davon betroffen ist. EU-Politik bestimmt in großen Teilen wie wir arbeiten, reisen, einkaufen, studieren – kurzum wie wir leben. Dies ist allerdings kein „Diktat aus Brüssel“, wie so oft von Lumpenhändlern des antieuropäischen Spektrums verbreitet, sondern Gegenstand eines normalen demokratischen Prozesses. Mein Aufruf ist daher denkbar einfach: Gehen Sie wählen, sonst tut es jemand anders für Sie!