Nordwest-Zeitung

PINGUINE SCHLITTERN AN ÜBERRASCHU­NG VORBEI

-

4. FORTSETZUN­G

Victoria strich abwesend über den Seidenstof­f ihres Abendkleid­es und konzentrie­rte sich wieder auf die Unterhaltu­ng zwischen ihrem Onkel und Lord Houston am Kopfende der Tafel. Sie versuchte mitzubekom­men, warum sich der alte Landherr derart echauffier­te. Der kahlköpfig­e, kugelrunde Mann fuchtelte in der Luft herum und schien ihrem Onkel einige Zahlen zu nennen.

Wut stieg in ihr auf. Richard würde doch nicht schon wieder Teile ihres Landes verkaufen? Sie hatte sich erst in der letzten Woche lautstark mit ihm gestritten, nachdem sie von ihrem Anwalt, Mr Hobbs, erfahren hatte, dass Richard die Wälder im Norden von Milton Castle veräußert hatte. Sie brauchte das Land, schließlic­h wollte sie die Pläne ihres Vaters verwirklic­hen. Er hatte immer vorgehabt, dort eine Baumwollfa­brik zu bauen.

Sie spürte einen Stich in ihrem Inneren. Warum hatte ihr Vater so früh sterben müssen? Er war Victoria immer so stark erschienen, er hatte ihr stets einen Rat geben können und sie getröstet, wenn sie traurig gewesen war. Sein tödlicher Unfall war unfassbar für sie gewesen. Angeblich hatte ein Bild mit dem wunderschö­nen Namen ,,Morgentau“seinen Kopf zertrümmer­t. Der schwere Rahmen war nachts von der Wand gefallen, während ihr Vater darunter geschlafen hatte. Victoria hob die Augenbraue­n und trank einen Schluck Wein. Obwohl sein schrecklic­her Tod mittlerwei­le zwei Jahre zurücklag, konnte sie immer noch nicht begreifen, wie sich das Bild, das seit Jahrhunder­ten über dem Bett gehangen hatte, lösen konnte.

Die Tage danach waren ein einziger Albtraum gewesen. Als Richard, Mary und Charles plötzlich auf Milton Castle eingezogen waren, war das Leben für Victoria unerträgli­ch geworden. Der Schmerz über den Verlust ihres Vaters hatte sich bald mit der Wut auf Richard gemischt, der Victoria in allen Punkten bevormunde­te und das Regiment über ihre Besitztüme­r an sich riss. Richard, der zwar weitläufig mit Victoria und ihrem Vater verwandt war, trotzdem aber gesellscha­ftlich nie auf ihrer Stufe gestanden hatte, war hellauf begeistert, plötzlich über so viel Macht und Einfluss zu verfügen. Unter normalen Umständen wäre er nie in den Genuss gekommen, über ein derart großes Vermögen und Anwesen bestimmen zu können. Darüber schien er vollkommen zu vergessen, dass er diese Position nur vorübergeh­end, nämlich bis zu Victorias Volljährig­keit, innehatte.

Victoria griff nach ihrem Glas, fuhr mit den Fingern über das Kristall und schwenkte den Wein darin hin und her. Niemand wusste, wo das Testament ihres Vaters geblieben war, in dem er bestimmt hatte, dass Mr Hobbs Victorias Vormund sein sollte, bis sie einundzwan­zig wurde. Oder hatte ihr Vater sie angelogen, als er ihr selbst davon berichtet hatte, nur wenige Monate vor dem tragischen Unfall? Victoria schüttelte den Kopf und stellte das Glas zurück. Warum hätte ihr Vater das tun sollen? Ihr Blick wanderte wieder zu ihrem Onkel. Als nächster Verwandter stand Richard nur zu gern bereit, Milton Castle und das gesamte Vermögen zu verwalten. Er war ein Cousin ihres Vaters und vor dessen Tod nur selten Gast hier gewesen.

Victoria lehnte sich zurück und beobachtet­e, wie sich Richard und Lord Houston die Hände schüttelte­n. Offenbar waren sie sich einig geworden. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Wie viel Land würde sie noch verlieren, bis sie endlich selbst über ihr Erbe bestimmen durfte?

Es ärgerte sie, dass Richard sie aus allen geschäftli­chen Angelegenh­eiten heraushiel­t. Dabei war Victoria von ihrem Vater bestens vorbereite­t worden und hätte sich mit Sicherheit besser um Milton Castle kümmern können, als Richard es zurzeit tat. Sie hatten so große Pläne gehabt. Nur wenige Wochen vor dem Tod ihres Vaters waren sie beide nach Manchester gereist und hatten sich die Baumwollfa­briken dort angesehen, um Informatio­nen für den Bau ihrer eigenen Fabrik zu erhalten.

Mary stand auf. Victoria musste es erdulden, dass sich Richards Frau als Hausherrin aufspielte und die Tafel aufhob. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter war das jahrelang Victorias Platz und ihre Aufgabe gewesen. Doch mit dem Unfall ihres Vaters hatte sie zunächst auch ihr Recht verloren, Hausherrin auf Milton Castle zu sein. Während sie den anderen Damen in den Salon folgte, tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass sie mit ihrem nächsten Geburtstag endlich die lang ersehnte Freiheit gewinnen würde. Dann konnte sie mit dem Wiederaufb­au ihres Vermögens beginnen und versuchen, die verlorenen Ländereien zurückzuka­ufen.

Währendsie­Maryundden anderen Damen durch die Gemäldegal­erie in den Salon folgte, dachte sie an all die Kunstwerke, die im Laufe der letzten zwei Jahre von hier verschwund­en waren. Es waren viele alte Meister darunter, ihr Vater war immer sehr stolz auf die Sammlung gewesen. Richard hatte die wertvollen Kunstwerke durch Bilder unbekannte­r Maler ersetzen lassen. Das Klappern der Absätze hallte von den Wänden wider. Die teuren Teppiche, die früher hier gelegen hatten, waren ebenso verschwund­en wie das antike chinesisch­e Kabinett. Die aufwendig geschnitzt­en Holzstühle aus dem Mittelalte­r waren modernen Sesseln gewichen. Victoria seufzte leise. Sie würde versuchen, all die verlorenen Kostbarkei­ten nach und nach zurückzuka­ufen.

FORTSETZUN­G FOLGT

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany