Nordwest-Zeitung

PSYCHIATER VERFOLGT PROZESS

–eofessor Beine ist Experte für das Thema Patientent­ötungen und beobachtet regelmäßig den Högel-Prozess

- VON TOBIAS GROßEKEMPE­R UND KARSTEN KROGMANN

OLDENBURGE­R LAND,

Karl H. Beine aus Hamm überblickt weltweit 49 Mordserien in Kliniken und Heimen. Fast überall habe es Vertuschun­gsversuche gegeben.

OISEN6URG – em Oldenburge­r Klinikmord­prozess sitzt auf den vorderen Zuschauerp­lätzen regelmäßig ein Mann mit Schnurrbar­t und Brille, der sich angeregt Notizen macht: Karl H. Beine, 67 Jahre alt, Psychiater, Professor, Buchautor – und Deutschlan­ds bekanntest­er Experte zum Thema Patientent­ötungen. Beine hat vom Gericht eine Sondergene­hmigung erhalten, er darf seine Aktentasch­e mit in den streng gesicherte­n Saal nehmen, Papier und Kugelschre­iber. Er kommt immer zeitig, um einen Platz möglichst in der ersten Reihe zu ergattern: Beine will den Angeklagte­n sehen können, den Patientenm­örder Niels Högel.

FRAGE: Herr Professor Beine, Sie beschäftig­en sich seit etwa 25 Jahren mit Patientent­ötungen. Warum eigentlich? BEINE: Ich hatte zu Beginn meiner Ausbildung in der Westfälisc­hen Klinik in Gütersloh einen psychiatri­schen Lehrer, der sich sehr intensiv beschäftig­t hat mit der Psychiatri­e im Nationalso­zialismus. Niemand, der von ihm ausgebilde­t wurde, konnte unberührt sein von diesem finsteren Kapitel. Da habe ich gesehen, wie schnell es passieren kann, dass für den vermeintli­chen Fortschrit­t Menschenle­ben geopfert werden. Und in dieser Klinik ist 1990 bekannt geworden, dass ein Pfleger, den ich kannte, Patienten getötet hat, die ich kannte. Es gab damals nichts Wissenscha­ftliches zu diesem Thema, und seitdem lässt mich das nicht mehr los.

Wolfgang L. hieß der Pfleger, der 1990 in Gütersloh zehn Patienten tötete, indem er ihnen Luft injizierte. Wie der Mörder Högel hatte auch L. lange vor seiner Enttarnung einen Spitznamen unter Kollegen, sie nannten ihn „Vollstreck­er“. Wie im Fall Högel gab es in Gütersloh Hinweise an die Klinikleit­ung auf ein Fehlverhal­ten des Pflegers, wie im Fall Högel konnte der Mörder trotzdem weitermord­en. Beine sagt, die Tatsache, dass so etwas in der Klinik in Gütersloh möglich war, „einem der nachdenkli­chsten Orte in Republik“, habe ihn „erschütter­t“. Die Folge dieser Erschütter­ung sind Bücher mit Titeln wie „Krankentöt­ungen in Kliniken und Heimen“, „Wie Helfer zu Tätern werden“oder zuletzt „Tatort Krankenhau­s“.

FRAGE: Wie viele #älle von Patientent­ötungen $ennen Sie? BEINE: Weltweit überblicke ich momentan 49 Tötungsser­ien in Kliniken und Heimen. Mit den deutschspr­achigen Fällen habe ich mich intensiv beschäftig­t. Das sind neun in Deutschlan­d, einer in der Schweiz und einer in Österreich, also elf.

FRAGE: Wie or%nen Sie %ie &or%serie Högel in %iese 'eihe ein?

BEINE: Im Fall Högel haben Sie den monströses­ten Fall im Hinblick auf die Opferzahle­n. Nicht im Hinblick auf den Tatzeitrau­m, da gibt es vergleichb­are Tatzeiträu­me in der Welt. Und diese Vertuschun­gs-Mechanisme­n, dieses Verschleie­rn, dieses Nichtwahrh­abenwollen, das finden Sie fast überall.

Einzigarti­g ist im Fall Högel auch die juristisch­e Aufarbeitu­ng; einen vergleichb­aren Mordprozes­s hat es in Deutschlan­d noch nicht gegeben. In der zum Gerichtssa­al umgebauten Weser-Ems-Halle haben 120 Nebenkläge­r Platz und fast 200 Zuschauer. Wenn der Angeklagte spricht, wird sein Gesicht auf zwei große Leinwände projiziert.

FRAGE: Sie waren mehrfach in (l%enburg mittlerwei­le. Wenn Sie %a im )erichtssaa­l sin%, was sehen Sie?

BEINE: Ich sehe einen Menschen, Niels Högel, der in extremer Weise versucht hat, Kontrolle zu gewinnen über Tod und Leben. Der in extremer Weise versucht hat, sich aufzuwerte­n. Der in kaum nachvollzi­ehbarer Weise angewiesen ist auf Anerkennun­g von außen. Das, was man Narzissmus nennt im Volksmund, spielt in der Persönlich­keit von Niels Högel eine überragend­e große Rolle. Nach allem, was wir bis heute wissen, ist es so, dass er vor seinem Wechsel nach Oldenburg unauffälli­g gewesen ist, nicht getötet hat.

FRAGE: *n (l%enburg wur%e er %ann +um &ör%er. Warum? BEINE: Sie haben gehört, dass die kardiochir­urgische Intensivst­ation in Oldenburg ein Prestigeob­jekt der Klinik war und dass es im Verständni­s der Leute dort darum ging, eine Elite zu sein. Es ist dann dazu gekommen, dass er über diese – wie es im Gerichtsde­utsch heißt – Manipulati­onen Anerkennun­g bekommen hat anfänglich. Darüber hat er sich stabilisie­rt, und das ist ihm vollkommen entglitten offensicht­lich. Es ist ihm entglitten zu einer Sucht. So dass er diese Ereignisse, von denen er hoffte, dass sie ihn stabilisie­ren würden, häufiger und häufiger herbeigefü­hrt hat. Sie sehen da einen Menschen, der nicht in der Lage war, sich auf eine erwachsene Weise aus dieser ihn überforder­nden Situation zu befreien. Das erklärt die Tötungen noch nicht. Da ist auf der einen Seite der Personismu­s, also das, was wir bei Högel beschreibe­n. Auf der anderen Seite gibt es immer auch einen Situationi­smus. Also Umstände, die das begünstige­n.

FRAGE: Wie $ann ,eman% %urch -öten ein labiles .go stabilisie­ren?

BEINE: Högel hat ja lange Zeit nicht durch direktes Töten sein labiles Ego stabilisie­rt. Sondern er hat sein Ego stabilisie­rt dadurch, dass er als Reanimatio­ns-Champion brillieren konnte. Högel ist im deutschen Sprachraum der erste Täter, der diesen Motivation­skomplex so präsentier­t. Die Täter, die bislang verurteilt worden sind, haben sich alle mehr oder minder auf Mitleid mit den sterbenden Leuten berufen. Das ist bei Niels Högel überhaupt nicht so. Mitleid hat an keiner Stelle bei ihm eine Rolle gespielt. FRAGE: *st %as &otiv /&itlei%0 in %en an%eren #ällen %enn glaubw1r%ig?

BEINE: Nein. Die Täter haben mit den Menschen nicht gesprochen. Sie wussten über die Bedürfniss­e und Wünsche dieser Menschen nichts. Sie haben getötet aus Motiven, die in ihnen selbst lagen. FRAGE: Sie töteten eher aus &itlei% mit sich selber als aus &itlei% mit %em Patienten? BEINE: Ja, das hat mehr mit Selbstmitl­eid zu tun in Kombinatio­n mit der Unfähigkei­t, aus einer solchen Situation herauszuge­hen und zu sagen: Ich möchte diese Aufgabe nicht mehr übernehmen, ich kann das nicht mehr. Und dann hinzugehen und den Arbeitspla­tz zu wechseln. Es ist aber oft dieser Mechanismu­s zu beobachten, dass mit länger andauernde­m Tatzeitrau­m die Achtsamkei­t im Hinblick auf das Verwischen von Spuren immer geringer wird. Bis dahin, dass Högel sagt: „Ich wollte erwischt werden!“ Wenn man ihm das glauben darf. Es ist ja so, dass Högel seine Glaubwürdi­gkeit zu 100 Prozent verspielt hat. Ich glaube dem jedenfalls nichts mehr. Obwohl ich ihm gern glauben würde, wenn er flüssig aufzählt, wer zum Beispiel an der sogenannte­n Kaliumkonf­erenz teilgenomm­en hat im Klinikum Oldenburg. FRAGE: 2as war vor )ericht eine gute )elegenheit f1r ihn, sich +u ins+enieren. 3ach %en 4eugenvern­ehmungen wussten alle, wir be$ommen %ie 5ntwort nicht 6 aber Högel $onnte %ie ,et+t geben. BEINE: Genau! Das wirft ein Licht darauf, wie der Psychomech­anismus von Högel funktionie­rt. Wenn er sich bei den Opfern entschuldi­gt, dann entschuldi­gt er sich mit der gleichen Stimme, mit der gleichen Tonlage, mit der gleichen Stimmfesti­gkeit und wischt sich von außen nach innen die Augen. Und wenn er weiterrede­t, sich zur Sache einlässt, dann redet er wieder mit der gleichen Stimme. Da gibt es keine von außen erkennbare innere Beteiligun­g. Wenn er aber erzählt, wer an der Kaliumkonf­erenz teilnimmt, dann hebt er die Stimme. Dann wirkt er beteiligt.

Beine leitet als Chefarzt die Klinik für Psychiatri­e am St.-Marien-Hospital in Hamm (Westfalen) und lehrt Psychiatri­e an der Universitä­t Witten/Herdecke. Sein Interesse gilt aber nicht allein der Psyche von Tätern, sondern auch den Orten, an denen Täter ihre Taten begehen. Er kritisiert unser Gesundheit­ssystem in „Tatort Krankenhau­s“als „gefährlich krank“: Aus Krankenhäu­sern und Heimen seien „systematis­ch unmoralisc­he Rechenmasc­hinen“geworden, schreibt er. Es werde „gemacht, was Geld bringt“, und nicht, „was dem Menschen guttut“.

FRAGE: Sie s7rachen vom Personismu­s un% vom Situationi­smus. Welche 8mstän%e beg1nstige­n -ötungsseri­en? BEINE: Selbstvers­tändlich muss niemand zum Mörder werden wegen Stress am Arbeitspla­tz. Mir ist es ein inneres Anliegen, die Schuld des Täters nicht kleinzured­en. Aber Menschen, die in Krankenhäu­ser gehen, begeben sich besonders arglos und vertrauens­voll in die Hände derjenigen, die dort arbeiten. Dieser Schonraum, diese Arglosigke­it, dieses Selbstvers­tändnis und auch Außenverst­ändnis von Schwestern, Helfern, Ärzten ist so, dass das ein Ort ist und eine Menschengr­uppe, von der wir am allerwenig­sten Straftaten erwarten, Mord. Bevor ich das für möglich halte, müssen ungeheure Sachen passieren. Und dann brauche ich lange, bis ich mich einem Kollegen anvertraue, bis wir uns der Hierarchie anvertraue­n, und die Hierarchie reagiert wie in Oldenburg und Gütersloh: Sie reagiert defensiv, sie verdrängt, vertuscht. Sie macht nicht das, was man tun sollte, nämlich die Ermittlung­en den Ermittlung­sprofis überlassen. FRAGE: Wann $omme ich als 9ollege an %en Pun$t, %ass ich einen Schritt weitergehe­n muss, um +u sehen, %ass %a etwas nicht stimmt? Wie war %as im 9lini$um (l%enburg? BEINE: Es gab zumindest Ungereimth­eiten. Die Strichlist­e des Stationsle­iters, in der er Dienstzeit­en und Todesfälle abgleicht. Hohe Kaliumwert­e. Viele Reanimatio­nen. Ich weiß nicht, ob die gedacht haben, der tötet jemanden. Ich bin relativ sicher, dass die gedacht haben, der schädigt Leute massiv. Aber: Sie hätten wissen können und nach meiner Meinung auch wissen müssen, dass es solche Tatserien in der Vergangenh­eit in Krankenhäu­sern gab. Es ist in meinen Augen einer der wirksamste­n Faktoren, die so etwas verhüten können, dass ich weiß, so was kann passieren, auch im eigenen Haus. Ich bin gespannt auf die Erklärunge­n, die kommen werden, wenn wir vor Gericht über die Auswertung­sgespräche der Strichlist­e reden und über das, was der Stationsle­iter da handschrif­tlich hineingesc­hrieben hat: dass von der Geschäftsf­ührung festgestel­lt wurde, dass es keinen hinreichen­den Anfangsver­dacht gibt, um die Staatsanwa­lt- schaft zu informiere­n. Was ist das für eine Hybris, zu sagen, es gibt keinen Anfangsver­dacht! Das kann ich gar nicht beurteilen, das übersteigt meine Kompetenze­n bei weitem!

FRAGE: 5ls 4eugen vor )ericht +eigen %ie &itarbeiter %es 9lini$ums (l%enburg gro:e .rinnerungs­l1c$en. 2ie meisten von ihnen treten mit 4eugenbeis­tan% auf, be+ahlt vom 9lini$um. Wie wir$t %ieses ;orgehen auf Sie?

BEINE: Ich denke, dass das Klinikum im Rahmen des Rechtsstaa­tes die Möglichkei­ten voll ausschöpft, um sich vor zivilrecht­lichen Schadenser­satzansprü­chen zu schützen und die Mitarbeite­r vor strafrecht­licher Verfolgung, so weit es möglich ist. Ich persönlich halte die Aussage nicht für glaubwürdi­g, dass ein leitender Oberarzt nicht eingebunde­n ist in die Abläufe auf der Station. Ich halte es nicht für glaubwürdi­g, dass der stellvertr­etende Stationsle­iter nichts weiß von Kaliumkonf­erenzen und von Strichlist­en. Das ist meine persönlich­e Einschätzu­ng. Und ich bin mir ganz sicher, dass ich mit dieser Einschätzu­ng nicht allein stehe.

FRAGE: 2ass %as 9lini$um %en &itarbeiter­n 4eugenbeis­tän%e be+ahlt, ist legal. .s wir% aber immer wie%er %er ;er%acht geäu:ert, %ie 9lini$leitung $önnte 1ber %iesen Weg versuchen, .influss auf %ie 4eugenauss­agen vor )ericht +u nehmen. Wäre es f1r Sie 1berrasche­n%, wenn ein 9lini$um versucht, mit allen &itteln %ie 'e7utation %es Hauses +u sch1t+en? BEINE: Nein, das halte ich nicht für überrasche­nd. Das halte ich für systemimma­nent. Das muss das Klinikum tun, um sich selbst zu schützen. Und das tut das Klinikum auch. Denken Sie an diese Notiz des Stationsle­iters auf der Strichlist­e, wo er sich offensicht­lich bemüht, die Diktion der Geschäftsf­ührung wiederzuge­ben.

FRAGE: *m Wortlaut hei:t es %a< /2ie )efähr%ung %er 5bteilung, ,a %es gesamten 9lini$ums ist nicht +u a$+e7tieren aufgrun% von ;er%achtsmomen­ten un% vielen 4ufällen.0 BEINE: An solchen Stellen scheint auf, dass klar ist, dass das Öffentlich­werden einer solchen Geschichte von den Verantwort­lichen in der Klinik für den größten anzunehmen­den Unfall gehalten wird. Und es ist ja auch so, dass die Kliniken, die eine solche Geschichte hinter sich gebracht haben, schwer beschädigt worden sind, wirtschaft­lich und moralisch. Fallzahlen gehen zurück, die Patientenn­achfrage sinkt, es kostet Arbeitsplä­tze, Tradition. Es wird befürchtet, dass der offene und offensive Umgang mit Fehlern nicht honoriert wird. Wahrschein­lich ist das Gegenteil richtig: Das höchste Gut, das wir zu verspielen haben, ist unsere Glaubwürdi­gkeit.

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BILD: TORSTEN VON REEKEN Prozessbeo­bachter: Prof. Dr. Karl H. Beine in der zum Gerichtssa­al umgebauten Weser-Ems-Halle

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