DAS HERRENHAUS IM MOOR
6. FORTSETZUNG
Sie spürte seine feuchte Hand auf ihrer Haut im tiefen Rückenausschnitt ihres Kleides. Die andere Hand hatte sich fest um ihre eigene gekrallt. Sein stattlicher Bauch presste sich unschicklich an ihr Kleid und auf seiner Oberlippe hatten sich Schweißperlen gesammelt. Sein schütteres blondes Haar klebte feucht an seinem Kopf.
Steif wie eine Porzellanpuppe ließ Victoria sich von ihm durch den Salon schwingen. Mehrere Male trampelte er ihr auf die Füße, ihre hellen Seidenschuhe würde sie anschließend bestimmt wegwerfen müssen. Das waren die schlimmsten Minuten des schlimmsten Geburtstags, den Victoria jemals erlebt hatte!
Sie war erleichtert, als Florence endlich ihr Spiel beendete und Charles sie losließ. Sie hatte nicht geglaubt, dass es noch ärger werden konnte, doch Charles schien nicht bereit, sich von Victoria zu trennen.
„Liebe Cousine, lass uns einen Spaziergang machen.“ Er deutete mit seinem wuchtigen Arm zur Tür.
„Jetzt?“Victoria sah ihn überrascht an. „Es ist nach zehn.“
Charles lachte. „Ich will nicht mit dir durchs Moor spazieren.“Seine feuchte Hand schloss sich um Victorias Finger. „Lass uns in der Gemäldegalerie auf und ab wandeln.“
Victoria schüttelte den Kopf. „Ich habe dir doch eben schon erklärt, dass ich mich nicht ganz wohl fühle.“
„Schluss jetzt!“Richard stand plötzlich neben ihnen. „Wenn Charles dich um einen Spaziergang bittet, dann wirst du ihm diese Freude machen.“Er wies zur Tür.
Victoria starrte Richard finster an. Er lächelte sie mit seinem kalten Lächeln an, das bei ihr immer eine Gänsehaut auslöste. Sie wusste, dass sie sich ihm fügen musste. Richard würde nicht nachgeben. Also folgte sie Charles mit zusammengepressten Lippen auf den kalten Flur hinaus.
Die Gaslampen verbreiteten kegelförmige Lichter an den hohen Wänden der Gemäldegalerie, doch ihr Schein reichte kaum aus, um die Bilder darin deutlich zu erkennen.
„Charles, ich verstehe nicht, warum wir hier in der kalten Galerie herumspazieren, wo es im Salon doch viel gemütlicher ist.“Victoria steuerte auf eines der runden Sofas zu, die in regelmäßigen Abständen inmitten des langgestreckten Raumes standen. „Würdest du bitte läuten, ich möchte jemanden hinaufschicken, um mir einen Schal zu holen.“
„Nein.“Charles sprang zu ihr und Victoria zuckte erschrocken zusammen. So viel Temperament hätte sie ihm gar nicht zugetraut. „Ich habe dich hierhergebracht, weil ich mit dir allein sein wollte.“Charles kniete vor ihr auf den Marmorfliesen nieder.
Victoria schluckte und sah sich in dem großen Raum um. Kein Diener stand in der Ecke bereit, kein Hausmädchen huschte mit einem Tablett vorbei. Sie kam sich plötzlich wie ein Kaninchen in der Falle vor.
„Charles, wir sollten lieber wieder zu den anderen gehen.“Sie versuchte aufzustehen, doch er griff nach ihrer Hand und zog sie zurück auf das Sofa.
„Geliebte Victoria, seit ich dich das erste Mal gesehen habe, wusste ich, dass ich mein Leben mit dir verbringen möchte.“
„Was?“Victoria wurde übel. „Bitte, Charles, rede nicht weiter.“
„Ich muss …“Ein Schweißtropfen löste sich von seiner Stirn und tropfte auf den Boden. „Meine geliebte Cousine, willst du meine Frau werden?“
Victoria starrte auf den feuchten Fleck, den der Tropfen auf dem Boden hinterlas- sen hatte. Dann sprang sie auf. „Nein!“
Wie konnte Charles nur denken, dass sie ihn heiraten würde? Charles, der gesellschaftlich weit unter Victoria stand, der kein Vermögen mit in die Ehe bringen würde und noch dazu der unattraktivste Mann war, den Victoria kannte.
„Nein?“Charles sprang auf und sah sie aus seinen kleinen Schweinsäuglein ungläubig an. „Victoria, du willst nicht?“
Jetzt stand er vor ihr. Seine kurzen Arme baumelten an dem runden Oberkörper herab. Seine Füße trippelten unruhig umher, als wüsste er nicht, ob er sich ihr nähern oder lieber auf Abstand gehen sollte.
„Oh, Charles!“Victoria hatte plötzlich Mitleid mit ihm. „Wie konntest du denn bloß denken, dass ich eine Hochzeit mit dir in Erwägung ziehen würde?“
„Ich … ich … mein Vater hat gesagt, dass du …“Er wirkte wie ein Kind, das ein geliebtes Spielzeug verloren hatte.
Natürlich! Victoria atmete tief ein. Es war Richards Idee gewesen. Er wusste genauso gut wie sie, dass er Milton Castle in einem Jahr wieder verlassen musste und Victoria ihn dann nicht auf ihrer engsten Freundesliste führen würde. Richard hoffte, sich mit einer Verbindung zwischen seinem einfältigen Sohn und Victoria weiterhin die Herrschaft über ihr Schloss und ihr Vermögen zu sichern.
Niemals, dachte Victoria und ging einen Schritt auf ihren Cousin zu. „Charles, es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen. Dein Vater hat dir falsche Hoffnungen gemacht. Ich würde dir gern den Schmerz ersparen, aber mein Vater hat mich gelehrt, dass Aufrichtigkeit eine der wichtigsten Tugenden ist.“
Sie lief vor dem großen Kamin, in dem heute kein Feuer brannte, auf und ab. Die Kälte hatte sie in diesem Augenblick vergessen.
„Ich werde dich nicht heiraten. Und ich habe auch nicht vor, die Frau eines anderen Mannes zu werden, den dein Vater für mich aussucht.“