Zurück in der Welt der Geräusche
W–e das Gehör-Implantat den Wilhelmshavener Jens Tjardts aus der Isolation befreite
Vermutlich würde Tjardts (55) inzwischen gar nichts mehr hören. Dank Medizintechnik ist ihm dieses Schicksal erspart geblieben.
WILHELMSHAVEN – Im Wilhelmshavener Binnenhafen kreischen Möwen, ein Schiffshorn tutet. Fünf Stockwerke höher sitzt Jens Tjardts hinter grauen Lamellen am Fenster seines Ein-Zimmer-Appartments – und hört zu.
Dass Tjardts, 55 Jahre alt, groß, sportlich, überhaupt etwas mitbekommt von dem maritimen Geschehen, verdankt er den kleinen schwarzen Geräten, die hinter seinen beiden Ohren sitzen. Er ist einer von mittlerweile mehr als 30 000 Deutschen, die trotz Taubheit oder Schwerhörigkeit mit einem CochleaImplantat wieder hören können. „Wenn ich kein Implantat hätte, wäre ich in einer Stadt wie Wilhelmshaven ein Einsiedler“, sagt Tjardts. „Schönes Schicksal.“
Tjardts leidet am UsherSyndrom. Auch wenn er Geräusche um sich herum mittlerweile (wieder) wahrnimmt, kann er die Schiffshörner und Möwen nur schwer erkennen. Merkmal seiner Krankheit ist die Kombination aus Innenohrschwerhörigkeit und Retinopathia Pigmentosa – das bedeutet, dass immer mehr Sinneszellen in der Netzhaut seiner Augen absterben. Der Wilhelmshavener kann mittlerweile nur noch Schemen erkennen, er unterscheidet zwischen hell und dunkel.
Das war einmal anders.
Welt bricht zusammen
Jens Tjardts wurde in Oldenburg geboren, aufgewachsen ist er in Wilhelmshaven. Schon als Kind hört er schlecht. Als er in die erste Klasse kommt, trägt er bereits Hörgeräte.
1984 zieht er für das Studium der Wirtschaftsinformatik nach Clausthal-Zellerfeld. Nach dem Besuch in einer Kneipe kurz vor Weihnachten irrt und taumelt er durch die Straßen. Es hat geschneit, und der junge Student kann sich nicht mehr orientieren, er sieht im hellen Schnee keine Umrisse mehr. „Auf meinem Zimmer habe ich dann einen Heulkrampf bekommen“, erinnert sich Tjardts.
Sein Augenarzt äußert erstmals den Verdacht: UsherSyndrom. Er schickt seinen Patienten nach Hamburg-Eppendorf zu einem Spezialisten. Das war 1985. „Beim Rausgehen sagte diese Koryphäe ganz lapidar: ‚Sie werden übrigens taub-blind‘. Da brach für mich die Welt zusammen“, sagt Tjardts.
Der junge Mann ist unglücklich, hadert mit seinem Schicksal. „Die Schock-Diagnose kann man nur verarbeiten, wenn Leute da sind, die einen hochziehen. Wir hatten in Clausthal eine sehr gute Studentengemeinschaft. Es war die schönste Zeit meines Lebens. Das hat sicherlich geholfen, dass es nicht zum totalen Zusammenbruch gekommen ist“, erinnert sich Tjardts mehr als 30 Jahre später am Fenster seiner Wilhelmshavener Wohnung.
1988 bricht er sein Studium im Harz ab. Er muss einsehen, dass ihn der Unterricht in einem großen Hörsaal auf- grund seiner schwindenden Hör- und Sehkraft überfordert. 1989 wechselt er nach Furtwangen im Schwarzwald, studiert dort weiter und schließt erfolgreich ab. aber er wird mit der Zeit immer schwerhöriger. Und auch die Sehkraft schwindet.
2005 gibt es einen Hoffnungsschimmer. Ein Akustiker macht ihn auf das Cochlea-Implantat (CI) aufmerksam. Es verspricht, ertaubte oder schwerhörige Menschen dank eines Implantats im Innenohr wieder hören zu lassen. Fast ein Jahr lang kämpft Tjardts für sein CI, dann wird es ihm an der Medizinischen Hochschule Hannover eingesetzt.
Risikoarmer Eingriff
In seinem Büro im Evangelischen Krankenhaus in Oldenburg sitzt Professor Dr. Andreas Radeloff, 44 Jahre alt, Brille, weißer Arztkittel. Radeloff schrieb bereits seine Doktorarbeit über Cochlea-Implantate, mehr als 1000 Cochlea-Implantat-Patienten hat er seither betreut. Radeloff ist Facharzt für Hals-, Nasenund Ohrenkunde und Direktor der Universitätsklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde am Evangelischen Krankenhaus in Oldenburg.
Seit vielen Jahren gehört das Einsetzen des CochleaImplantats zu den Routineverfahren in der Ohrenheilkunde, sagt der Arzt. Das Implantat wird in Oldenburg – dem drittgrößten Zentrum für solche Eingriffe in Deutschland – jährlich rund 130 Mal eingesetzt.
Das Gerät besteht aus zwei Teilen: Der äußere Teil sitzt über dem Ohr, es nimmt Geräusche auf und verarbeitet sie. Über eine Spule gelangen dann elektrische Impulse im Ohr an die Hörschnecke – die sogenannte Cochlea. Durch Elektroden, die in einer OP in die Cochlea eingeführt werden, kommt der Höreindruck als Stromimpuls im Innenohr an. Dort wird der Stromreiz in Nervensignale umgesetzt und über den Hörnerv an das Gehirn geleitet.
Damit das Implantat funktionieren kann, ist ein intakter Hörnerv nötig, erklärt Professor Radeloff. Ansonsten gebe es wenige Einschränkungen, warum das CI nicht verwendet werden sollte. „Heutzutage rät man auch Menschen, die in einem Hörtest mit Hörgerät nur etwas mehr als die Hälfte verstehen, zu einem Implantat“, weiß der Experte.
Denn: Es gilt mittlerweile als erwiesen, dass eine Schwerhörigkeit das Risiko für eine Demenz steigert. Auch taubgeborenen Kindern werden die Implantate möglichst frühzeitig eingesetzt, damit sie damit Sprechen lernen können. Die Operation gilt als „äußert risikoarm“, so der Arzt. Vor allem Patienten im höheren Alter müssten sich allerdings die Frage stellen, ob sie sich noch an das neue Hören gewöhnen möchten, denn dafür seien etwas Geduld und Training erforderlich.
Tagebuch geführt
Auch Jens Tjardts hat anfangs Probleme mit den Implantaten. „Was für ein Schrott-Gerät“, denkt er, kurz nachdem das erste CI seinen Dienst tut. Im September 2006 wird das Implantat im rechten Ohr eingesetzt. Auf diesem Ohr ist Tjardts zu diesem Zeitpunkt fast taub. Nachdem die Wundheilung abgeklungen ist, soll er in Hannover lernen, mit dem Gerät zu hören. Dafür muss sein Hörgerät links ausgeschaltet werden. Tjardts führt während dieser Zeit Tagebuch. Am Montagnachmittag wird das Cochlea Implantat das erste Mal eingeschaltet.
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Montag: s piepte bei jeder gesprochenen Silbe sehr deut- lich – der Hörnerv wusste gar nicht, wie ihm geschah !m Sechs-"ett-#immer stellten meine Mitpatienten schnell $est, dass ich jet%t mit dem rechten &! deutlich schlechter dran war als beim Mittagessen mit dem da noch eingeschalteten Hörger't
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(ienstag: )leiches )ew*rge wie am Montag + , -bends ging ich mit einer &!-.r'gerin aus !ch sollte das ausgeschaltete Hörger't nur im /ot$all einschalten (er /ot$all blieb ein (auer%ustand !ch schaltete das Hörger't ein, um *berhaupt etwas verstehen %u 0önnen (as 1eben war nicht schön
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Mittwoch: (as Hören mit &! war weiter schlecht und wurde dann %ur 2atastrophe, als ich vormittags er$reut $eststellte, dass ich bei den neuen &!- instellungen doch tats'chlich gerade dem )espr'ch %weier &!-.echni0er $olgen 0onnte (as dur$te leider nicht sein, da mein &! %u dem #eitpun0t aus war !ch hatte also tats'chlich mit &! rechts schlechter gehört als mit ausgeschaltetem Hörger't lin0s 3nd nun, wo lin0s endg*ltig weg war, war aber sehr schön das 4iepen wieder da, das eben noch ge$ehlt hatte, grrrmp$
-bends tele$onierte ich nach Hause s wurde ein Monolog !ch sagte, wer auch immer dran sei +Mutter oder 5ater,, solle nur tac0-tac0tac0 sagen, ich w*rde dann piep-piep-piep verstehen, jede Silbe ein 4iep, mehr ginge nicht
!ch hörte piep-piep-piep und wusste, es war jemand am .ele$on, na immerhin
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(onnerstag: 6ie jeden .ag gab es eine neue &!- instellung, Hörtraining mit der 4'dagogin und 4&-.raining mit dem intera0tiven 4rogramm Hörlabor, das mir in diesen grauen #eiten lieber war als alles aus 7leisch und "lut )er'usche +-uto, 4$erd, 7löte, "ombe , 0onnte ich mittlerweile etwas besser voneinander unterscheiden 3nd trot%dem – im 1au$e des .ages mer0te ich eine leichte 5erbesserung: (ie Sprache dr*c0te das 4iep-piep ein St*c0 weit in den Hintergrund
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7reitag: 5ormittags gab es die let%te &!- instellung und nochmals 4&-.raining (ann 0amen die -bschlusstests bei der 4'dagogin 89 4ro%ent .re$$er:uote bei insilbern, ;9 4ro%ent bei #ahlen, ;9 4ro%ent S't%e in <uhe Hallooo, was war hier denn los== >a, mein )ehirn hatte sich in den let%ten ?9, @9 Stunden in die Hörwelt %ur*c0ge0'mp$t Mein &!-Ahr war in dieser 0ur%en #eitspanne an allem vorbeige$logen, was jemals vorher mit Hörger'ten möglich war -ber die 4'dagogin hatte noch einen 2n*ppeltest parat, S't%e im Störschall: 9 4ro%ent (as 4iepen war nach wie vor da, aber das )ehirn hatte sich daran gewöhnt und dr*c0te es immer mehr in den Hintergrund und die Sprache in den 5ordergrund 6ir machten noch %wei Minuten .ele$ontraining, dann hatte ich meine Mutter am -pparat !ch er$uhr von ihr, dass sie es auch am Mittwoch gewesen war, die sich meinen Monolog anhören musste s war mein schlechtestes .ele$onat aller #eiten und dieses jet%t das "este B
Wie eine Mondlandung
„Es war so ähnlich wie die Mondlandung“, erinnert sich Tjardts in seiner Wohnung. Nach etwa einem Jahr wird dann auch das zweite CI eingesetzt.
Höreinschränkungen hat der Wilhelmshavener beispielsweise bei Straßenlärm, Starkwind, im großen Stimmengewirr, beim Verstehen auf einer Distanz von mehr als drei Metern oder im Dunklen. Denn da ist kein Lippenablesen mehr möglich.
Dass mit den Implantaten ein weitgehend normales Leben möglich ist, bestätigt der Oldenburger Arzt Prof. Dr. Radeloff in seinem Büro. Es sei für Schwerhörige und Ertaubte in der Regel wieder möglich, mit Fremden zu telefonieren. Kinder könnten häufig Regelschulen besuchen, später auch studieren gehen. Auch Fliegen oder Sport seien mit dem CI möglich.
Die erwartete Lebensdauer der Implantate liegt bei mindestens 20 Jahren, sagt Prof. Dr. Radeloff. Die Kosten werden im Übrigen laut dem Oldenburger Experten von den Krankenkasse übernommen.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Wohnhauses von Jens Tjardts liegt der Wilhelmshavener Südstrand. Dort trifft er sich im Sommer regelmäßig mit anderen zum Schwimmern. Er kennt viele Leute, pflegt Kontakte. Im Winter joggt er. Für Tempoeinheiten geht es ins Stadion, dort erkennt Tjardts die weißen Streifen auf der Rennbahn und kann sich so orientieren. Er plauscht auch gern auf der Straße oder in seinem Stamm-Supermarkt. Ohne Implantat wäre das alles nicht möglich.
Und wenn ihm der Trubel dann doch einmal zu groß wird, kann Jens Tjardts die Welt ganz einfach auf Stumm schalten. „Ich trage die CIs nicht zu jeder Zeit“, sagt er. „Zwischendurch genieße ich auch die Stille.“