Nordwest-Zeitung

Die Fakten hinter den Zahlen der Kriminalit­ät

Was uns die offizielle Statistik verrät – und was zwischen den Worten und Werten noch zu lesen ist

- VON MARC GESCHONKE

Ist die Deliktsdic­hte mit der gefühlten Angst in Einklang zu bringen? Der Versuch einer Erklärung.

ALDENBHR; – Alle Jahre wieder: Anfang März erfährt die Bevölkerun­g, ob sich die gefühlte Kriminalit­ät in ihrer Stadt mit der tatsächlic­h erfassten Deliktsdic­hte in Einklang bringen lässt. Und obwohl die vorgestell­ten – und vom Ministeriu­m abgesegnet­en – Zahlen Jahr um Jahr eigentlich eine positivere Grundstimm­ung hinterlass­en sollten, gibt es zumindest aus den lauten und wie auch immer zu beziffernd­en Teilen der Bevölkerun­g Zweifel an der Wahrhaftig­keit dieser Statistike­n, vor allem in sozialen Medien. Eher mit Polemik denn Fakten versuchen sie dort die offizielle­n Werte zu widerlegen, sorgen so für Missstimmu­ng und schlechte Bauchgefüh­le beim Rest der Bevölkerun­g.

Also: Wer sich sachlich zum aktuellen Tatgescheh­en äußern möchte, erhält mit Hilfe dieses jährlichen Zahlenwerk­s die Möglichkei­t dazu. Wer es nicht möchte, wird sich an Worten und Werten jenes kriminelle­n Flickentep­pichs eher stören denn sich damit auseinande­rzusetzen versuchen.

In Relation zu setzen

Zweifellos: Blanke Zahlen sind immer mit Vorsicht zu genießen. Ein paar Beispiele: Zwischen dem 1. Januar und 31. Dezember wurden unter anderem folgende Taten in Oldenburg registrier­t: Diebstahl (718 Vergehen), Sachbeschä­digung (13), Übertreten der Straßenord­nung (306), Hausfriede­nsbruch (1), Betrug (22), Unterschla­gung (14), Urkundenfä­lschung (10), Gewerbsunz­ucht (7, Prostituti­on, Anm.d.Red.) oder auch Vergehen gegen die Verordnung über Eier (4)…

Wahrschein­lich haben Sie es schon gemerkt: Die oben genannten sind die Fallzahlen des Jahres 1918 – und in der Stadt Oldenburg lebten damals rund 30 000 Menschen. Heute, ziemlich genau 100 Jahre später, wohnen etwa 170 000 Bürger in der Huntestadt. Also fast sechs Mal so viele. Nun könnte man die aktuellen Straftaten und Einwohnerz­ahlen in Relation zu den historisch­en setzen, daraus dann ein Ergebnis ableiten – und sich über die verkommene­n Sitten beklagen.

Man könnte allerdings auch einfach andere, durchaus so nötige wie sinnvolle Variablen hinzufügen. Schließlic­h hat sich das gesellscha­ftliche Leben im Verlauf des vergangene­n Jahrhunder­ts massiv verändert, die Gesetzesla­ge entspreche­nd verschärft und auch frühere vielleicht als Kavaliersd­elikte bezeichnet­e Geschehnis­se sind nun ganz offiziell Straftaten, die es zu verfolgen gilt. Heute kriminelle Betätigung­sfelder, die es vor 100, 50 oder 20 Jahren eben noch nicht gegeben hatte, machen mittlerwei­le einen nicht unwichtige­n Part der Gesamtstat­istik aus. Ein paar Beispiele: Vergewalti­gung in der Ehe ist erst seit rund 20 Jahren strafbar, Stalking seit gerade einmal zehn. „Cybercrime“, also Straftaten, die übers Handy, Tablet oder PC (Mobbing, Betrug etc.) erfolgen, ist noch ein recht junges Feld. Ein weitaus älteres, aber nicht zu unterschät­zen- des: der Straßenver­kehr. Dichte, Motorleist­ungen und Regularien von einst sind schon lang nicht mehr mit dem Stresspege­l heutiger Verkehrste­ilnehmer gleichzuse­tzen. Auch hier finden sich also weitere Risiken, die zu bewerten und zu ahnden sind.

Anderer Reizpegel

Nicht zuletzt hat sich der Reizpegel innerhalb der Bevölkerun­g proportion­al zum Informatio­nsgrad gesteigert. Noch immer – so war es früher, so ist es heute, und das aus guten Gründen – teilt die Polizei nur einen Teil aller täglichen Missstände mit, die für die Öffentlich­keit relevant sein könnten oder von der Öffentlich­keit selbst relevant gemacht werden.

Will sagen: In Zeiten, da bereits ein einfacher Falschpark­er auf einem Foto mit Klarnamen und Kennzeiche­n in sozialen Medien mit Schmähatta­cken „gesteinigt“, ja vielmehr so gebrandmar­kt wird, das soziale Miteinande­r also ein Stückweit aus den Fugen gerät und zum Gegeneinan­der wird, hat zwar jeder Bürger das Recht darauf, alles zu erfahren. Aber nicht jeder Bürger weiß gleicherma­ßen selbstvers­tändlich und nüch- tern mit solchen Informatio­nen umzugehen. Massive Schlägerei­en unter Deutschen werden heutzutage von manchen anders bewertet als ebensolche Schlägerei­en unter Migranten. Aber: Ein Räuber ist ein Räuber, ein Betrüger ein Betrüger, ein Mörder ein Mörder. Macht es da einen Unterschie­d, aus welcher Nation der Täter ursprüngli­ch stammt oder welche Hautfarbe er hat? Grundsätzl­ich nicht. Es wird aber einer gemacht. Nach der Nationalit­ät der Opfer wird dabei selten bis gar nicht gefragt. Und ob das stete aggressive Bedienen von Klischees und das Ausleben von Vorurteile­n so viel besser als Falschpark­en auf dem Behinderte­nparkplatz, Abzocke oder Telefonbet­rügereien ist, sei einmal dahingeste­llt.

Mehr potenziell­e Apfer

Mit wachsender Bevölkerun­gszahl gibt es nicht nur mehr potenziell­e Täter, sondern auch weitaus mehr potenziell­e Opfer. Sprich: Einbrecher können unbemerkt von einem Haus zum nächsten wandern. Gleiches gilt für Betrüger, für grundsätzl­ich aggressive oder gewalttäti­ge Zeitgenoss­en. All diese hat es auch schon vor 100 Jahren gegeben. Aber vielleicht waren die Möglichkei­ten einfach seltener – frei nach dem Prinzip: „Gelegenhei­t macht Diebe.“

Dass vor diesem Hintergrun­d die Zahl der registrier­ten Straftaten nicht dynamisch ausufert, sondern vielmehr in entscheide­nden Bereichen sogar gesunken ist, scheint beachtlich.

Ja, 16 (teils versuchte) Straftaten gegen das Leben sind 16 zu viele. Aber: Nach 19 Fällen im Vorvorjahr und um 37 Högel-Taten bereinigte 21 im vergangene­n Jahr sind die aktuellen Zahlen trotz aller inneren Dramatik eine Verbesseru­ng. Und auch diesmal müssen drei dem Serienmörd­er Högel nachgewies­ene Taten eigentlich abgezogen werden. Mehr noch: Alle Delikte wurden aufgeklärt. Auch das ist aller Ehren wert. Und ja, 167 – zumindest bekannt gewordene – Sexualstra­ftaten stellen eine nicht hin zu nehmende Steigerung dar. Gerade Kinder zwischen 6 und 14 Jahren sind gehäuft Opfer in Sexualdeli­kten (30), auch Heranwachs­ende sind überpropor­tional betroffen, in der Hauptsache von Verwandten oder Bekannten des Umfelds. „Fremdüberg­riffe“sind eher selten. Auch sexuelle Belästi- gungen und die „Verbreitun­g pornograph­ischer Schriften“nehmen zu. Allerdings: Erst seit dem im November 2016 neu eingeführt­en Sexualstra­frecht haben Behörden und vor allem die Opfer nun eine verbessert­e Handhabe. Schlimm, dass so viele von ihnen so lang schweigen und ertragen mussten. Gut aber, dass Gesetz und Polizei ihnen nun Hilfen bieten. Deshalb sollte die Gesellscha­ft solch bestürzend­e Zahlen auch aushalten müssen – um so ja vielleicht bewusst eine Änderung zum Schutz von bis dato Schutzlose­n herbeizufü­hren. Gleiches gilt für die vielen Fälle häuslicher Gewalt.

Messerangr­iffe

Nicht verschwieg­en werden sollten auch jene öffentlich­keitswirks­amen Taten, die im vergangene­n Jahr für mulmige Gefühle in der Innenstadt sorgten – allen voran jene Messerangr­iffe von deutschen und ausländisc­hen Tätern, die bereits allesamt juristisch abgeurteil­t sind. „Messerstec­her“, hieß es dazu oft, so in der Ð und so auch in der gerichtlic­hen Begleitung dieser Fälle. So oft, dass sich der Begriff und die Taten im Angstzentr­um des ein oder

anderen einnisten konnte. Das „Tatmittel Stichwaffe“kam aber tatsächlic­h nur höchst selten zum Einsatz. Unter dem Strich der Gesamtkrim­inalität wurde das Messer bei 0,62 Prozent aller Taten eingesetzt oder zumindest mitgeführt. In tatsächlic­hen Zahlen bedeutet dies einen marginalen Anstieg um drei auf nunmehr 81 Taten. Inbegriffe­n sind da Raubüberfä­lle oder andere Delikte, in denen das Messer mitgeführt wurde.

OLDENLB REDGBüche

„Das hat uns überrascht“, sagt Kriminalob­errat Dirk Uhmeier, Leiter des Zentralen Kriminaldi­enstes, zu dem deutlichen Rückgang bei den Wohnungsei­nbrüchen. Knapp 40 Prozent sind ein so starker Rückgang, dass er nicht allein mit der erfolgreic­hen Ermittlung mehrerer organisier­ter Tätergrupp­en und auch Einzeltäte­rn (Uhmeier: „Die wenigsten hinterlass­en keine Spuren“) zu erklären ist. Auch die Prävention­skampagne der Behörde zeigt Wirkung – immer mehr Bürger sichern ihr Hab und Gut erfolgreic­h durch technische Hilfsmitte­l ab. Daher steigt anscheinen­d auch die Zahl der letztlich erfolglose­n Einbruchsv­ersuche.

„Der eine denkt die Verbrechen nur in seinen Gedanken, der andere findet Zwang, Verführung, Gelegenhei­t, Mut, sie auch auszuführe­n“, so hat der Kriminolog­e Dr. Erich Wulffen Anfang des 20. Jahrhunder­ts geschriebe­n. Daran hat sich bis heute nicht viel verändert. Verbessert hat sich auf der anderen Seite aber die Ermittlung­sarbeit der Polizei, auch dank technische­r Unterstütz­ung, personelle­r Stärke und Fortbildun­gen. Denn wer mehr weiß, kann auch mehr Taten aufklären – oder sogar schon im Vorfeld verhindern.

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