Die Fakten hinter den Zahlen der Kriminalität
Was uns die offizielle Statistik verrät – und was zwischen den Worten und Werten noch zu lesen ist
Ist die Deliktsdichte mit der gefühlten Angst in Einklang zu bringen? Der Versuch einer Erklärung.
ALDENBHR; – Alle Jahre wieder: Anfang März erfährt die Bevölkerung, ob sich die gefühlte Kriminalität in ihrer Stadt mit der tatsächlich erfassten Deliktsdichte in Einklang bringen lässt. Und obwohl die vorgestellten – und vom Ministerium abgesegneten – Zahlen Jahr um Jahr eigentlich eine positivere Grundstimmung hinterlassen sollten, gibt es zumindest aus den lauten und wie auch immer zu beziffernden Teilen der Bevölkerung Zweifel an der Wahrhaftigkeit dieser Statistiken, vor allem in sozialen Medien. Eher mit Polemik denn Fakten versuchen sie dort die offiziellen Werte zu widerlegen, sorgen so für Missstimmung und schlechte Bauchgefühle beim Rest der Bevölkerung.
Also: Wer sich sachlich zum aktuellen Tatgeschehen äußern möchte, erhält mit Hilfe dieses jährlichen Zahlenwerks die Möglichkeit dazu. Wer es nicht möchte, wird sich an Worten und Werten jenes kriminellen Flickenteppichs eher stören denn sich damit auseinanderzusetzen versuchen.
In Relation zu setzen
Zweifellos: Blanke Zahlen sind immer mit Vorsicht zu genießen. Ein paar Beispiele: Zwischen dem 1. Januar und 31. Dezember wurden unter anderem folgende Taten in Oldenburg registriert: Diebstahl (718 Vergehen), Sachbeschädigung (13), Übertreten der Straßenordnung (306), Hausfriedensbruch (1), Betrug (22), Unterschlagung (14), Urkundenfälschung (10), Gewerbsunzucht (7, Prostitution, Anm.d.Red.) oder auch Vergehen gegen die Verordnung über Eier (4)…
Wahrscheinlich haben Sie es schon gemerkt: Die oben genannten sind die Fallzahlen des Jahres 1918 – und in der Stadt Oldenburg lebten damals rund 30 000 Menschen. Heute, ziemlich genau 100 Jahre später, wohnen etwa 170 000 Bürger in der Huntestadt. Also fast sechs Mal so viele. Nun könnte man die aktuellen Straftaten und Einwohnerzahlen in Relation zu den historischen setzen, daraus dann ein Ergebnis ableiten – und sich über die verkommenen Sitten beklagen.
Man könnte allerdings auch einfach andere, durchaus so nötige wie sinnvolle Variablen hinzufügen. Schließlich hat sich das gesellschaftliche Leben im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts massiv verändert, die Gesetzeslage entsprechend verschärft und auch frühere vielleicht als Kavaliersdelikte bezeichnete Geschehnisse sind nun ganz offiziell Straftaten, die es zu verfolgen gilt. Heute kriminelle Betätigungsfelder, die es vor 100, 50 oder 20 Jahren eben noch nicht gegeben hatte, machen mittlerweile einen nicht unwichtigen Part der Gesamtstatistik aus. Ein paar Beispiele: Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit rund 20 Jahren strafbar, Stalking seit gerade einmal zehn. „Cybercrime“, also Straftaten, die übers Handy, Tablet oder PC (Mobbing, Betrug etc.) erfolgen, ist noch ein recht junges Feld. Ein weitaus älteres, aber nicht zu unterschätzen- des: der Straßenverkehr. Dichte, Motorleistungen und Regularien von einst sind schon lang nicht mehr mit dem Stresspegel heutiger Verkehrsteilnehmer gleichzusetzen. Auch hier finden sich also weitere Risiken, die zu bewerten und zu ahnden sind.
Anderer Reizpegel
Nicht zuletzt hat sich der Reizpegel innerhalb der Bevölkerung proportional zum Informationsgrad gesteigert. Noch immer – so war es früher, so ist es heute, und das aus guten Gründen – teilt die Polizei nur einen Teil aller täglichen Missstände mit, die für die Öffentlichkeit relevant sein könnten oder von der Öffentlichkeit selbst relevant gemacht werden.
Will sagen: In Zeiten, da bereits ein einfacher Falschparker auf einem Foto mit Klarnamen und Kennzeichen in sozialen Medien mit Schmähattacken „gesteinigt“, ja vielmehr so gebrandmarkt wird, das soziale Miteinander also ein Stückweit aus den Fugen gerät und zum Gegeneinander wird, hat zwar jeder Bürger das Recht darauf, alles zu erfahren. Aber nicht jeder Bürger weiß gleichermaßen selbstverständlich und nüch- tern mit solchen Informationen umzugehen. Massive Schlägereien unter Deutschen werden heutzutage von manchen anders bewertet als ebensolche Schlägereien unter Migranten. Aber: Ein Räuber ist ein Räuber, ein Betrüger ein Betrüger, ein Mörder ein Mörder. Macht es da einen Unterschied, aus welcher Nation der Täter ursprünglich stammt oder welche Hautfarbe er hat? Grundsätzlich nicht. Es wird aber einer gemacht. Nach der Nationalität der Opfer wird dabei selten bis gar nicht gefragt. Und ob das stete aggressive Bedienen von Klischees und das Ausleben von Vorurteilen so viel besser als Falschparken auf dem Behindertenparkplatz, Abzocke oder Telefonbetrügereien ist, sei einmal dahingestellt.
Mehr potenzielle Apfer
Mit wachsender Bevölkerungszahl gibt es nicht nur mehr potenzielle Täter, sondern auch weitaus mehr potenzielle Opfer. Sprich: Einbrecher können unbemerkt von einem Haus zum nächsten wandern. Gleiches gilt für Betrüger, für grundsätzlich aggressive oder gewalttätige Zeitgenossen. All diese hat es auch schon vor 100 Jahren gegeben. Aber vielleicht waren die Möglichkeiten einfach seltener – frei nach dem Prinzip: „Gelegenheit macht Diebe.“
Dass vor diesem Hintergrund die Zahl der registrierten Straftaten nicht dynamisch ausufert, sondern vielmehr in entscheidenden Bereichen sogar gesunken ist, scheint beachtlich.
Ja, 16 (teils versuchte) Straftaten gegen das Leben sind 16 zu viele. Aber: Nach 19 Fällen im Vorvorjahr und um 37 Högel-Taten bereinigte 21 im vergangenen Jahr sind die aktuellen Zahlen trotz aller inneren Dramatik eine Verbesserung. Und auch diesmal müssen drei dem Serienmörder Högel nachgewiesene Taten eigentlich abgezogen werden. Mehr noch: Alle Delikte wurden aufgeklärt. Auch das ist aller Ehren wert. Und ja, 167 – zumindest bekannt gewordene – Sexualstraftaten stellen eine nicht hin zu nehmende Steigerung dar. Gerade Kinder zwischen 6 und 14 Jahren sind gehäuft Opfer in Sexualdelikten (30), auch Heranwachsende sind überproportional betroffen, in der Hauptsache von Verwandten oder Bekannten des Umfelds. „Fremdübergriffe“sind eher selten. Auch sexuelle Belästi- gungen und die „Verbreitung pornographischer Schriften“nehmen zu. Allerdings: Erst seit dem im November 2016 neu eingeführten Sexualstrafrecht haben Behörden und vor allem die Opfer nun eine verbesserte Handhabe. Schlimm, dass so viele von ihnen so lang schweigen und ertragen mussten. Gut aber, dass Gesetz und Polizei ihnen nun Hilfen bieten. Deshalb sollte die Gesellschaft solch bestürzende Zahlen auch aushalten müssen – um so ja vielleicht bewusst eine Änderung zum Schutz von bis dato Schutzlosen herbeizuführen. Gleiches gilt für die vielen Fälle häuslicher Gewalt.
Messerangriffe
Nicht verschwiegen werden sollten auch jene öffentlichkeitswirksamen Taten, die im vergangenen Jahr für mulmige Gefühle in der Innenstadt sorgten – allen voran jene Messerangriffe von deutschen und ausländischen Tätern, die bereits allesamt juristisch abgeurteilt sind. „Messerstecher“, hieß es dazu oft, so in der Ð und so auch in der gerichtlichen Begleitung dieser Fälle. So oft, dass sich der Begriff und die Taten im Angstzentrum des ein oder
anderen einnisten konnte. Das „Tatmittel Stichwaffe“kam aber tatsächlich nur höchst selten zum Einsatz. Unter dem Strich der Gesamtkriminalität wurde das Messer bei 0,62 Prozent aller Taten eingesetzt oder zumindest mitgeführt. In tatsächlichen Zahlen bedeutet dies einen marginalen Anstieg um drei auf nunmehr 81 Taten. Inbegriffen sind da Raubüberfälle oder andere Delikte, in denen das Messer mitgeführt wurde.
OLDENLB REDGBüche
„Das hat uns überrascht“, sagt Kriminaloberrat Dirk Uhmeier, Leiter des Zentralen Kriminaldienstes, zu dem deutlichen Rückgang bei den Wohnungseinbrüchen. Knapp 40 Prozent sind ein so starker Rückgang, dass er nicht allein mit der erfolgreichen Ermittlung mehrerer organisierter Tätergruppen und auch Einzeltätern (Uhmeier: „Die wenigsten hinterlassen keine Spuren“) zu erklären ist. Auch die Präventionskampagne der Behörde zeigt Wirkung – immer mehr Bürger sichern ihr Hab und Gut erfolgreich durch technische Hilfsmittel ab. Daher steigt anscheinend auch die Zahl der letztlich erfolglosen Einbruchsversuche.
„Der eine denkt die Verbrechen nur in seinen Gedanken, der andere findet Zwang, Verführung, Gelegenheit, Mut, sie auch auszuführen“, so hat der Kriminologe Dr. Erich Wulffen Anfang des 20. Jahrhunderts geschrieben. Daran hat sich bis heute nicht viel verändert. Verbessert hat sich auf der anderen Seite aber die Ermittlungsarbeit der Polizei, auch dank technischer Unterstützung, personeller Stärke und Fortbildungen. Denn wer mehr weiß, kann auch mehr Taten aufklären – oder sogar schon im Vorfeld verhindern.