Nordwest-Zeitung

Auf Normalnive­au geschrumpf­t

Wie sich Kanadas Premiermin­ister Justin Trudeau selbst entzaubert

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Die Entschuldi­gung war lange überfällig. Justin Trudeau steht in einem schmucklos­en Konferenzs­aal in einem Hotel in Iqaluit und wischt sich eine Träne von der Wange. Dann sagt er Sorry, einmal, zweimal, mehrmals. „Der Rassismus und die Diskrimini­erung der Inuit-Ureinwohne­r ist und war unentschul­dbar. Wir bitten um Verzeihung.“

Trudeau ist in das verschneit­e Arktisstäd­tchen gekommen, um Buße zu tun. Buße für die Verbrechen, die Kanada den Ureinwohne­rn des Nordens lange angetan hat: Im letzten Jahrhunder­t waren viele Inuit von der Regierung gewaltsam von ihren Angehörige­n getrennt und zwangsweis­e zu Krankenbeh­andlungen in den Süden geschickt worden, oft gegen ihren Willen.

Trudeaus Entschuldi­gung wirkt aufrichtig. Für viele Kanadier ist es ein Moment, der ihnen in Erinnerung ruft, warum sie Justin Trudeau vor gut drei Jahren ins Amt gewählt haben: Trudeau hatte ihnen einen Neustart versproche­n. Er wollte mit den althergebr­achten Methoden in der Politik aufräumen und viele Dinge anders machen.

In seiner Siegesrede, damals nach jenem denkwürdig­en Wahltriump­h über die Konservati­ven im Lktober 2015, hatte Trudeau ein neues Zeitalter versproche­n und sich eines Zitats des ehemaligen Premiermin­isters Sir Wilfried Laurier bedient: „Sunny ways“, sonnige Zeiten also, sollten seine Regierung prägen. Es sollte eine Regierung sein mit Ethos und moralische­m Anspruch.

Trudeau hatte sich eine hohe Messlatte gelegt und lange hatte es den Anschein, er würde ihr gerecht. Er besetzte sein Kabinett zur Hälfte mit Frauen, öffnete sein Land für Flüchtling­e, marschiert­e auf Pride-Paraden mit, legalisier­te Cannabis, betonte die Menschenre­chte und machte die Aussöhnung mit den Ureinwohne­rn zu einem Grundpfeil­er seiner Politik.

Doch all das steht nun infrage. Trudeau ist in die tiefste Krise seiner Amtszeit geschlitte­rt. Gut ein halbes Jahr vor den Parlaments­wahlen untergräbt eine Justizaffä­re seine Glaubwürdi­gkeit und er droht, über seine eigenen Ansprüche zu stolpern. In vielen Umfragen ist seine liberale

Partei hinter die Konservati­ven zurückgefa­llen, und seine Abwahl im Herbst ist möglich.

Zwei seiner prominente­sten Ministerin­nen haben das Handtuch geworfen, und sein engster Berater in der Staatskanz­lei gab auf. Der Ethikbeauf­tragte des kanadische­n Parlaments ermittelt wegen möglicher Verfehlung­en Trudeaus und die Lpposition fordert seinen Rücktritt.

Im Kern geht es um den Vorwurf von Günstlings­wirtschaft, um einen uneinsicht­igen Premier und ein zerrüttete­s Verhältnis Trudeaus zu seiner Ex-Justizmini­sterin. Jody

Wilson-Rayboult galt bis zu ihrem Rücktritt im Februar als eine der einflussre­ichsten Frauen im Kabinett und war die einzige indigener Abstammung.

Doch bei einem denkwürdig­en Auftritt im Parlament in Lttawa brach Wilson-Raybould offen mit Trudeau und hielt ihm vor laufenden Kameras vor, sie in einem Korruption­sverfahren gegen den kanadische­n Baukonzern SNC-Lavalin monatelang politisch unter Druck gesetzt und so die Unabhängig­keit der Justiz gefährdet zu haben.

Dem kanadische­n Unternehme­n SNC-Lavalin wird vorgeworfe­n, zwischen 2001 und 2011 Schmiergel­der in zweistelli­ger Millionenh­öhe an die Familie des libyschen Machthaber­s Muammar alGaddafi gezahlt zu haben. Doch statt der Justiz freie Hand zu lassen wollte der Premier durch eine Interventi­on erreichen, dass es zu einer

außergeric­htlichen Einigung kommt.

Ein solches juristisch­es Verfahren ist in Kanada seit einer Gesetzesän­derung im letzten Jahr grundsätzl­ich möglich, doch die Entscheidu­ng darüber obliegt den Anklagebeh­örden und der Ministerin, nicht dem Premier. Zudem riecht es nach einer Politik der alten Schule, bei der es Politiker wegen Jobs in ihrem eigenen Wahlkreis mit rechtsstaa­tlichen Verfahren nicht immer so genau nehmen.

Nach allem was man weiß, ist bei der Aktion kein Geld geflossen und auch juristisch ist kein Schaden entstanden, weil Wilson-Raybould dem Druck Trudeaus widerstand­en hat. Doch Trudeau hatte für sich höhere Maßstäbe gesetzt. Die Affäre berührt viele seiner Kernanlieg­en: Gerechtigk­eit, Ehrlichkei­t, Sauberkeit sowie einen fairen Umgang mit Frauen. Dass zwei prominente Ex-Ministerin­nen dem Regierungs­chef implizit Mobbing vorwerfen und auch deswegen zurücktret­en, passt nicht zu seinem selbst erklärten Image als „Feminist“. Mittlerwei­le hat eine weitere liberale Abgeordnet­e Trudeau einen aggressive­n Umgangston vorgeworfe­n und ihren Rückzug angekündig­t.

Bei vielen Kanadiern verstärkt sich so der Eindruck, dass Trudeau ein Führungspr­oblem hat und seine ehemalige Justizmini­sterin schlicht kaltgestel­lt wurde. Tatsächlic­h hatte der Premier Wilson-Rayboult im Januar für Beobachter völlig überrasche­nd vom Justizmini­sterium auf den weniger einflussre­ichen Posten als Veteranenm­inisterin versetzt, bevor sie später ganz zurücktrat.

Trudeau hat abgestritt­en, dass die Degradieru­ng etwas mit der SNC-Lavalin-Kontrovers­e zu tun hatte. Seine ExMinister­in dagegen geht davon aus, dass sie strafverse­tzt wurde. Sein Wort steht gegen ihr Wort, und bislang scheinen die meisten Kanadier geneigt, ihr zu glauben.

Das liegt auch an seiner Sturheit. Bei einer Pressekonf­erenz letzte Woche versuchte Trudeau den Befreiungs­schlag – doch auch der ging schief. Er räumte nur ein, was offensicht­lich ist: das Zerwürfnis zwischen ihm und seiner Ex-Ministerin, das schlechte Krisenmana­gement, das schwindend­e Vertrauen. Für seinen Versuch, Jobs bei der Baufirma SNCLavelin zu retten, werde er sich niemals entschuldi­gen, polterte er. Korruption hin, Korruption her.

Der Zweck heiligt also die Mittel – nun scheinbar auch bei Justin Trudeau. Tatsächlic­h hat der Ethikbeauf­tragte des Parlaments seit 2015 bereits fünf Mal gegen die Regierung Trudeau ermittelt und dabei in mindestens zwei Fällen Verstöße festgestel­lt.

Das prominente­ste Vergehen betraf Trudeau selbst. Im Dezember 2017 war der Premier mit einem Privathubs­chrauber des Aga Khan zum Familienur­laub auf der Privatinse­l des Milliardär­s in die Karibik geflogen. Da die Stiftung des Aga Khan in Kanada mit Steuergeld­ern gefördert wird, lag ein klarer Interessen­konflikt vor, für den sich der Premier auch damals nur zögerlich entschuldi­gte.

Wie sehr ihm manchmal das politische Gespür abhandenge­kommen ist, zeigte auch seine Indien-Reise vor gut einem Jahr. Damals hatte Trudeau Termine in bunten folklorist­ischen Trachten absolviert. Es war der plumpe Versuch, die einflussre­iche indisch-stämmige Wählerscha­ft daheim zu beeindruck­en, was bei seinen Gastgebern gar nicht gut ankam und in Kanada als Anbiederun­g empfunden wurde.

Und so scheint es, dass der einst so coole Premier von einem politische­n Überfliege­r und Hoffnungst­räger auf einen Durchschni­ttspolitik­er geschrumpf­t ist, einen Politiker, wie viele andere: mit Skandalen, Fehlern, unappetitl­ichen Aktionen.

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DPA-BILD: GAN-AMD Karneval? Nein, Staatsbesu­ch in Indien. Mit seinen Auftritten in Landestrac­ht gaben Justin Trudeau und seine Familie Anlass zu Spott.
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Autor dieses Beitrages istDer Journalist, Jahrgang 1970, berichtet seit fast acht Jahren aus Kanada. Jörg Michel.@Den Autor erreichen Sie unter forum@infoautor.de

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