Nordwest-Zeitung

Wo auf Gemütlichk­eit Wert gelegt wird

Utrecht hat sich dörflichen Charakter bewahrt – Bezaubernd­e Plätze und Gärten

- VON CHRISTOPH DRIESSEN

Viele Holland-Besucher fahren an Utrecht vorbei. Ein /roßer Fehler. Denn in der viert/rößten Stadt der Niederland­e /ibt es eini/es zu sehen, zum Beispiel eine doppelstöc­ki/e Gracht.

UTRECHT – Ein paar Tage in Utrecht war die 45 Jahre alte Barbara aus Köln, als sie einen Albtraum hatte. Sie sah sich mit ihren drei Kindern in das berühmte Rietveld-SchröderHa­us einziehen und geriet regelrecht in Panik. Man dürfe dieses Horror-Haus nicht weiterempf­ehlen, meint sie. Doch wenn ein 1924 erbautes Haus heute noch bleibenden Eindruck hinterläss­t, dass man davon (schlecht) träumt, ist es allemal einen Besuch wert.

Sehenswert­er Domturm

Normalerwe­ise gibt die niederländ­ische Stadt Utrecht keineswegs Anlass zu Albträumen. Utrecht ist fast so schön wie Amsterdam – nur mit viel weniger Touristen. Die Stadt ist auch sehr relaxt, sie hat nur 350 000 Einwohner. Die scheinen gefühlt alle unter 30 zu sein, in Utrecht gibt es fast 70 000 Studenten. Viel Wasser und viel Grün, windschief­e Häuschen und gepflaster­te Straßen verleihen der Stadt außerdem einen stellenwei­se dörflichen Charakter. Man darf sich nicht wundern, wenn plötzlich eine Schar Gänse über die Straße watschelt.

Utrecht hat lange nicht so viele Grachten wie Amsterdam, aber dafür eine besonUnive­rsität, ders große und schöne, die sich durch das gesamte Zentrum zieht: die Oudegracht. Im Gegensatz zu den Amsterdame­r Kanälen ist sie zweistöcki­g: Es gibt eine Ebene auf Straßenniv­eau und ein paar Meter darunter direkt auf Höhe des Wasserspie­gels noch steinerne Anlegesteg­e. Diese niedrig gelegenen Kaianlagen stehen über Tunnel unter der Straße direkt mit den Lagerkelle­rn der Grachtenhä­user in Verbindung. Die Handelswar­e konnte dadurch vom Wasser aus gleich in die Häuser transporti­ert werden. Heute sind noch 732 dieser Gewölbekel­ler übrig, und viele von ihnen haben sich in Cafés, Restaurant­s, Discos, Clubs oder Geschäfte verwandelt.

Utrechts bedeutends­te Attraktion neben der Gracht ist der Domturm. Einst besaß die Stadt die größte Kathedrale der Niederland­e. Heute aber steht von diesem Dom nur noch die hintere Hälfte, die vordere ist weg. Sie verschwand am 1. August 1674, als ein Tornado das Mittelschi­ff einstürzen ließ. Es wurde nie wieder aufgebaut.

Stehengebl­ieben ist der 122 Meter hohe Turm, der höchste Kirchturm der Niederland­e, den man in dem platten Land schon aus vielen Kilometern Entfernung sieht. Der Domturm ist eine niederländ­ische Ikone jenseits von Windmühlen und Straßenorg­eln, und man sollte ihn unbedingt erklimmen. Von oben kann man bei gutem Wetter einen Großteil des Königreich­s überblicke­n: Man sieht die Dächer von Amsterdam und die Hochhäuser von Rotterdam.

Top-Museen so wie in Amsterdam das Van-GoghMuseum oder das Rijksmuseu­m gibt es in Utrecht nicht. Statt von einer Attraktion zur anderen zu hetzen, lässt man sich am besten einfach durch die Gassen der behagliche­n Innenstadt treiben. „Gezellig“, wie der Niederländ­er sagt – urgemütlic­h. Irgendwann setzt man sich in eines der Cafés, bestellt ein Stück „appeltaart met slagroom“(Apfelkuche­n mit Sahne) und schaut den „fietsers“(Radfahrern) zu. Die gibt es in Utrecht in so unglaublic­her Zahl, dass man zu den Hauptverke­hrszeiten richtige Radlerstau­s beobachten kann.

Viele bezaubernd­e Plätze warten darauf, entdeckt zu werden. Einer davon ist der Kreuzgang des Doms samt Garten und Brunnen. Oder der botanische Garten der der verwunsche­n mitten in der Stadt liegt. Darin ein Gingko aus dem 18. Jahrhunder­t und eine AmazonasRi­esenseeros­e mit eineinhalb Meter Durchmesse­r.

Das Shoppen in Utrecht führt auf einen Abstecher ins frühe 20. Jahrhunder­t: Freundlich­e ältere Damen betreiben in ehrenamtli­cher Tätigkeit einen Süßigkeite­nladen, genannt Kruidenier­smuseum. Man kann sich dort mit allen denkbaren Leckereien eindecken, und zwar noch zu jenen Mini-Beträgen, für die man früher auch an deutschen Büdchen Drops und Lakritze erhielt. Besonders zu empfehlen sind unter anderem „heksentand­en“(Hexenzähne), „harde katjes“(harte Katzen) und „zwarte schoolkrij­t“(schwarze Schulkreid­e). Ausgesproc­hen lecker!

Haus ohne Wände

Und dann schließlic­h das Rietveld-Schröder-Haus. Es steht für Freiheit und Klarheit. Was in Deutschlan­d unter Bauhaus bekannt ist, hieß in den Niederland­en De Stijl. Und begann dort sogar um einiges früher. Das RietveldSc­hröder-Haus sieht aus wie ein in Architektu­r umgewandel­tes Bild von Piet Mondrian in Rot, Gelb und Blau. Es wirkt hypermoder­n – dabei ist es fast 100 Jahre alt.

Wenn man im ersten Stock die Fenster öffnet, wird das Haus eins mit der Landschaft – es scheint zu schweben. Auch die Innenwände lassen sich komplett wegklappen, so dass ein einziger Raum entsteht. Das ist der Stoff, aus dem für Touristin Barbara Albträume entstehen: Wer will schon mit Teenagern in einem Haus ohne Wände leben?

 ?? BILD: NBTC/DREESEN ?? Utrecht hat zwar nicht so viele Kanäle wie Amsterdam, doch die zweistöcki­ge Oudegracht zieht sich einmal durch das Zentrum.
BILD: NBTC/DREESEN Utrecht hat zwar nicht so viele Kanäle wie Amsterdam, doch die zweistöcki­ge Oudegracht zieht sich einmal durch das Zentrum.

Newspapers in German

Newspapers from Germany